Giselle (1)
Einsam sitze ich am Schreibtisch in der Büroecke des großen L-förmigen Wohnzimmers. Ich fliege über den Text eines Chats auf einer Internet-Seite, die mir vor wenigen Wochen aufgefallen ist. So recht kann ich mich allerdings nicht auf die Auslassungen der anderen Chatteilnehmer konzentrieren. Meine Gedanken schweifen ständig ab.

Bevor ich mich auf die Suche nach Chatkontakten machte, ist Kessi, meine Bordercollie-Hündin, gestorben. Sie hat es auf biblische siebzehn Lebensjahre gebracht. Es war also einerseits nicht überraschend, als der Tierarzt mir sagte, dass es mit ihr zu Ende geht. Sollte sie sich weiter quälen? Schweren Herzens habe ich zugestimmt, sie einschläfern zu lassen.
Zwei Jahre davor habe ich der Scheidung zugestimmt. Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Acht Jahre liebloses nebeneinander her leben waren irgendwann genug. Für mich ist eine Ehe eben keine Zweckgemeinschaft, sondern mehr!

Dann musste das gemeinsame Haus verkauft werden. Ich zog in ein Appartement. Von meinem Anteil kaufte ich schließlich ein billiges Grundstück an einem Waldrand. Der Besitzer des Privatwaldes verlangte dafür von mir, dass ich täglich durch den Forst streife und Bäume markiere, die gefällt werden müssen, bevor sie von selbst umstürzen. Ich bin Holzbildhauer und auf meinen Wanderungen habe ich mir einige Erfahrungen darin angeeignet, da ich meine Skulpturen aus Bruchholz herstelle.

Das Geld aus dem Verkauf unseres Reihenhauses reicht zudem gerade noch zum Kauf eines Bausatzes zum Bau eines kanadischen Blockhauses. Ich bin zu einem Hersteller nach Süddeutschland gefahren und habe dort meine Vorstellungen in einem CAD-Programm Gestalt annehmen gesehen. Beim Zusammenbau später in der Halle bin ich ebenfalls dabei gewesen und dann wurden die Stämme mit einem LKW auf meinem Grundstück angeliefert. Eine örtliche Baufirma hat mir eine Bodenplatte gegossen, so dass ich sofort mit dem Zusammensetzen beginnen kann.

Klaus, ein Freund aus Kindertagen hat sich bereit erklärt, mir in seiner Freizeit zu helfen, denn Stämme von dreißig Zentimeter Durchmesser haben doch einiges an Gewicht. Zusätzlich habe ich mir bei einem Baumarkt eine Baumaschine gemietet, die Stapler und Kran in Einem ist. Zwischen jede Lage Holz kommt eine Lage Filz zum Abdichten, da sich die Stämme anfangs etwas setzen.

Nach drei Wochenenden ist der Rohbau dann fertig und nach drei Monaten, rechtzeitig vor dem Winter, bin ich schon aus meinem Appartement in mein neues Haus gezogen. In der Hausmitte ist ein Heizkamin gemauert worden. Auf dem asymmetrischen Dach, dessen Südseite flacher und daher länger ist, habe ich Sonnenkollektoren installieren lassen. Eine Brunnenbohrung versorgt mich mit frischem, sauberem Grundwasser, dass von der Sonne auf dem Dach auf etwa 20 Grad erwärmt wird. Eine kleine Haus-Windkraftanlage liefert mir Strom und eine große Batterie federt Windstillen ab. So hat das ‚Forsthaus’ nur noch einen Anschluss an das Abwasser-Netz gebraucht und den Müll muss ich an den Rand des nächsten Dorfes bringen, wenn dort Abfuhr ist.

Kessi ist während der letzten einsamen Ehejahre schon, und auch jetzt im neuen Haus, meine ganze Freude gewesen. Ich habe ihren Körper einäschern lassen und bei meinem neuen Haus begraben.

*

Wieder einmal sitze ich vor meinem Computer und schaue auf die Buchstaben, die über den Bildschirm wandern. Plötzlich meldet sich eine GIGI im Chat an und schreibt dann:
„Gebrochenes Herz sucht jemand, der es heilt.“

Neben den anderen Gesprächen, die sich nicht stören lassen, kommt nun ein MARK in den Chat und schreibt:
„Hi GIGI, wie alt und woher? Beschreib dich mal.“

„33 aus Düsseldorf,“ antwortet GIGI knapp.

„Hi GIGI,“ tippe ich nun schnell. „Nur für dich: Freundschaft ist langmütig, sie ist gütig, sie prahlt nicht, sie sucht nicht ihren Vorteil, sie erträgt vieles, glaubt vieles, hofft vieles, hält vielem stand.“

Auf dem Bildschirm lese ich kurz darauf:
„Hi, HRvKESSI. Danke für die schönen Worte. Aber manchmal sind die Freunde auch die ärgsten Feinde.“

Ich antworte ihr:
„Hast schlimme Erfahrungen gemacht? Darf ich dir meine Schulter leihen, zum Anlehnen? Ich bin m/183/82, dklblond, blaue Augen.“

Wenig später lese ich auf dem Bildschirm:
„Hi, HRvKESSI, ich bin 170/66kg, lange lockige Haare. Du bist sehr nett.“

„Magst du darüber mit mir reden? Ich öffne einen separaten Chatraum!“

Gesagt, getan. Ich schreibe den Befehl „/room DOGS CAGE“ und schicke ihn ab. Sofort bin ich, statt in der „Eingangshalle“, im Chatraum „DOGS CAGE“ und eine Minute später betritt GIGI den Raum. Nun schreibe ich den Befehl „/lock“ und wir können ungestört reden.

„Hallo, GIGI,“ schreibe ich. „Was hast du erlebt?“

„Ach, HRvKESSI, Probleme mit meinem Freund und mit meiner Katze eben… Aber sag mal, hat dein Nick und der Raumname eine besondere Bedeutung?“

„Ja, weißt du, meine Hündin ist vor kurzem gestorben. Sie hatte aber auch schon ein hohes Alter. Es war abzusehen. Trotzdem fehlt sie mir.“

„Verstehe ich! Ich habe meine Katze in die Tierklinik gebracht. Sie hatte gebrochen und schrie erbärmlich, wenn ich ihr über den Leib streichelte. Mein Freund sagte, ich soll mich nicht so haben und ist in die Kneipe gegangen…“

„Hm, sehr unsensibel!“

Im Verlauf des Gespräches habe ich den Eindruck bekommen, dass es ihr gut tut, sich einmal alles von der Seele zu reden. Auch wenn ich für sie ein wildfremder Mann sein muss.

Sie erzählt, dass ihr Freund bevor sie sich kennen gelernt haben, noch bei Muttern gewohnt hat, und nun die meiste Zeit in der Kneipe verbringt, wenn der Hunger ihn nicht zu ihr treibt. Eine Arbeit hat er nicht. Sie selbst arbeitet als Marktverkäuferin auf einem Hotdog-Stand an sechs Tagen in der Woche auf sechs verschiedenen Wochenmärkten. Ihr Kater BOOMER ist immer für sie da gewesen, hat sie immer wieder aufgemuntert.

Ich verabrede mich mit ihr für die nächsten Tage des Abends, wenn sie wieder allein in ihrer Wohnung sitzt, um sie aufzumuntern, mental an ihrer Seite zu sein.