Nicci (1)
Mein Freund geht mir im Moment gewaltig auf die Nerven. Gut, dass ich nach der Arbeit mit Joggen etwas abschalten kann. Vor zwei Jahren sind wir zusammengezogen. Was bin ich damals verliebt gewesen! Ich habe mir eine rosarote Zukunft an seiner Seite ausgemalt. Schon bald darauf sind die Seifenblasen geplatzt.
Er hat sich als Egozentriker herausgestellt. Zuerst habe ich noch darüber gelächelt, dass er fürs Styling morgens im Bad beinahe länger gebraucht hat als ich. Ich habe es durch die rosarote Brille betrachtet und bin so stolz auf ihn gewesen. Dass er im gemeinsamen Haushalt keinen Finger krumm gemacht hat, habe ich ihm nicht übelgenommen. Mein Vater ist genauso gewesen. Das muss daran liegen, dass es halt Männer sind, habe ich mir gedacht.
Dann liest man auf einmal in allen Zeitungen – und es kommt auf allen Programmen -, dass es bei Silvesterfeiern in einer westdeutschen Stadt zu Übergriffen auf Frauen gekommen ist. Ihn schien das nicht sonderlich zu berühren. Tage später komme ich von einer Feier bei meinem Bruder nach Hause – es ist schon dunkel -, als mir auf dem Weg zum Hauseingang des Wohnblocks, in dem wir wohnen, eine dunkle Gestalt begegnet. Mein Herz rutscht in die Hose. Ich beeile mich zum Eingang zu kommen und drücke den Sprechknopf unserer Wohnung.
„Ja?“ antwortet mein Freund.
Er ist nicht mit auf die Feier gekommen, weil ihm angeblich nicht gut gewesen ist. Stattdessen legt er sich etwas hin, hat er beim Abschied gesagt.
„Mike, kommst du bitte mal runter!“ rufe ich aufgeregt ins Mikrofon.
„Was ist denn?“ fragt er unwirsch zurück.
„Komm einfach mal runter!“ fordere ich ihn mit zitternder Stimme auf.
Es klackt und kurz darauf geht das Licht im Treppenhaus an. Das beruhigt mich etwas.
Weiter hinten beginnen die Lämpchen des Aufzugs zu wandern und kurz darauf öffnet er die Haustür.
„Was ist los?“ fragt er.
Als er mich anspricht, weht mir eine Alkoholfahne entgegen.
Ich schlüpfe durch den Türspalt nach drinnen und sage: „Draußen bin ich einer unheimlichen Person begegnet… Du hast getrunken?“
Das ist völlig unüblich! Er hat sich noch nie betrunken bisher. Das passt einfach nicht zu seiner Selbstverliebtheit.
„Ich habe Sport geschaut,“ meint er nur.
Wir fahren gemeinsam hoch in die Wohnung. Auf unserer Couch liegen einige Kissen so, dass er bequem auf der Seite liegen kann. Vor der Couch stehen ein paar Flaschen verschiedener alkoholischer Getränke. Wir haben ja nicht viel im Haus, aber verschiedene Sorten für verschiedene Gelegenheiten. Auf dem Boden liegen außerdem einige Papiere. Ich sammele sie auf. Es interessiert mich doch, um was es sich handelt. Darunter finde ich seine Kündigung. Als ich ihn darauf anspreche, dreht er sich auf der Couch um und spielt die Mimose. Plötzlich ist er nicht mehr der Mann, den ich vor fast fünf Jahren kennengelernt habe, so selbstsicher und souverän. Jetzt ist er nur noch ein Häufchen Elend.
Ich räume die Papiere erst einmal in eine Schublade und bringe die leeren Flaschen in die Küche. Dann setze ich mich auf eine Ecke der Couch und versuche, ihn mit Streicheln zu beruhigen. Er schüttelt aber meine Hand ab und ruft etwas heftig aus:
„Lass mich in Ruhe!“
Also ziehe ich die Hand zurück und gehe ins Schlafzimmer, da ich ja auch schon ziemlich müde bin. Am Morgen des nächsten Tages, einem Sonntag, wache ich auf und finde mich einsam in meinem Bett liegend. Ich stehe auf und schaue als erstes ins Wohnzimmer. Er liegt auf der Couch und schnarcht.
Das beruhigt mich soweit, dass ich mich im Bad für den Tag vorbereite und dann in der Küche das Frühstück zubereite. Dann gehe ich zu Mike und rüttele ihn an der Schulter.
„Guten Morgen, Schatz! Die Sonne scheint; das Frühstück ist fertig!“
Er lässt nur ein Brummen von sich hören, also frühstücke ich nun ohne ihn. Danach gehe ich nach draußen joggen. Eine halbe Stunde später bin ich wieder zurück und finde ihn auf der Couch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt. Auch jetzt schickt er mich wieder fort, als ich mich ihm tröstend nähern will. Die Küche sieht ziemlich unordentlich aus. So habe ich sie vorhin nicht verlassen. Hat er vielleicht weiteren Alkohol gesucht?
„Hör mal,“ sage ich zu ihm, nachdem ich mich vor ihm aufgebaut habe. „Eine Kündigung ist kein Weltuntergang! Wir durchforsten jetzt gemeinsam das Internet nach Anzeigen, die zu dir passen!“
Er zuckt nur mit den Schultern. Sein Elan ist wie weggeblasen. Also nehme ich mir unseren Laptop und gehe damit zum Esstisch, da Mike die Couch belegt. Bald habe ich ein halbes Dutzend Anzeigen zusammen und schicke sie zum Drucker. Mit den Blättern gehe ich zum Couchtisch und lege sie ihm vor.
„Hier!“ spreche ich ihn an. „Schau, was ich für dich gefunden habe!“
Er wischt die Blätter mit einer unwirschen Handbewegung vom Tisch herunter.
„Hör mal!“ meine ich empört dazu. „Schau sie dir wenigstens an! Und morgen schreibst du deine erste Bewerbung!“
Wieder ist ein Brummen seine einzige Antwort. Ich beginne nun mit der Hausarbeit und dem Mittagessen. Er kommt diesmal tatsächlich an den Esstisch, stochert aber nur im Essen herum. Später verlässt er die Wohnung mit der Bemerkung, dass er zu einem Kumpel geht.
‚Nun gut,‘ denke ich. ‚Vielleicht schafft der ihn aufs Gleis zurück zu bringen.‘
Nach der Hausarbeit setze ich mich mit einem Orangensaft vor den Fernseher. Als ich schließlich ins Bett gehen will, wird es laut an der Wohnungstür. Ich öffne und finde drei Mann im Eingang stehend. Mike ist von zwei Kumpels nach Hause gebracht worden! Er hängt in den Armen der beiden Anderen, die auch getrunken haben müssen…
Ich dirigiere die Gruppe zur Couch und bedanke mich bei den Kumpels. Dann komplimentiere ich sie hinaus. Zurück im Wohnzimmer tönt mir schon regelmäßiges Schnarchen entgegen. Die Stirn besorgt in Falten gelegt, aber doch für den Moment resigniert, gehe ich nun ebenfalls schlafen. Am nächsten Tag muss ich schließlich früh zur Arbeit.

*

So geht das jetzt schon drei Wochen. Mein Freund ist kaum ansprechbar. Er liegt mir quasi nur noch auf der Tasche. Aber wir sind doch mal so glücklich gewesen. Ich liebe ihn noch. Um den Kopf frei zu bekommen, jogge ich nun täglich bis zu einer Stunde. Aber irgendwann muss ich ja nach Hause. Jemand muss sich schließlich um die Hausarbeit kümmern.
Ich frage Alex, meinen Bruder, was ich tun kann. Zunächst zeigt sich eine Zornesfalte auf seiner Stirn und er poltert los, dass ich erschreckt zurückweiche. Dann wird er ruhig, macht einen Schritt auf mich zu und nimmt mich in den Arm.
„Schmeiß den Kerl raus!“ sagt er. „Du hast es nicht nötig einen Schmarotzer mit durchzufüttern. Wenn er mit der Situation nicht klar kommt, muss er noch einiges lernen fürs Leben!“
„Wie soll ich das machen?“ frage ich leise. „Die Einrichtung haben wir gemeinsam gekauft. Das Meiste hat er bezahlt. Ich habe ihn ja inzwischen dazu gebracht, dass er zum Arbeitsamt gegangen ist, denn ohne sein Geld könnten wir die Wohnung nicht halten!“
„Dann mache es so: Suche dir eine kleine Appartementwohnung und richte sie dir heimelig ein. Dann nimm alles aus eurer Wohnung, was du brauchst und schreibe dem Vermieter eine Änderungskündigung. Darin bezeichnest du Mike als alleinigen Mieter ab dem nächsten Ersten und gibst sein Girokonto an. Bei der Bank kündigst du deinen Dauerauftrag ‚Miete‘, und dann wird alles gut! Um Möbel aus der Wohnung in dein neues Appartement zu bringen, komme ich mit ein paar Kumpels vorbei.“
Ich drücke ihn und bedanke mich mit einem Kuss auf die Wange. Mit neuem Lebensmut nehme ich all das in Angriff, was Alex vorgeschlagen hat. Wochen später mache ich eine kleine private Einweihungsfeier, bei der Alex zwischen zwei Bissen von der selbstgemachten Pizza fragt:
„Wie fühlst du dich jetzt?“
„Viel besser! Danke dir, Alex. Und sag auch deinen Kumpels meinen Dank!“
„Werd‘ ich gerne machen,“ antwortet er lächelnd. „Und wie ist das Single-Dasein?“