Nicci (5)
„Das ist vollkommen in Ordnung,“ beruhigt Peter mich. „Hast du vielleicht zufällig einen Hund, oder bist du bei deinen Eltern früher mit einem Hund aufgewachsen?“
Ich ziehe die Stirn kraus.
„Ist das von Bedeutung?“ frage ich ihn.
„Nicht direkt,“ sagt er, und schüttelt leicht den Kopf. „Aber dann könntest du dich möglicherweise intuitiv in einen Hund hineinfühlen, wüsstest, was deren Gestik und Mimik bedeutet, und würdest sie mir gegenüber anwenden. Dann wüsste ich ohne viel Raten, dass du im sogenannten ‚Dogspace‘ bist.“
„Hm, den Begriff habe ich schon einmal gehört. Kannst du ihn mir einmal richtig erklären?“
„Dazu ist viel Vertrauen zum ‚Owner‘ nötig. Der Alltagsstress tritt in den Hintergrund. Deine Wahrnehmung verändert sich. Sind mehrere Leute im Raum, die miteinander reden, bekommst du das zwar mit – den Inhalt der Gespräche nimmst du aber nicht mehr wahr, ist unwichtig geworden. Du weißt, dass der ‚Owner‘ sich um dein Wohl kümmert, dass deine Grundbedürfnisse befriedigt werden, dass du die Zuwendung erhältst, die ein fühlendes Wesen nun mal braucht.
Du wirst die Räume anders wahrnehmen, als bisher. Menschen wirken aus deiner Perspektive sehr groß. Möbel erscheinen dir riesig. Sind andere Doggies dabei, assoziierst du damit ‚Artgenossen‘, ‚Spielkameraden‘. Doggies Blick gilt hauptsächlich Herrchens Hand mit dem Leckerlie, ansonsten ist Doggie neugierig, will alles untersuchen. Fremden – Menschen oder Doggies – begegnet Doggie sehr zurückhaltend. Sie sucht ständig Herrchens Nähe. Ihm vertraut sie, bei ihm fühlt sie sich geborgen.“
Ich höre Peter aufmerksam zu, während er spricht.
„Du legst großes Gewicht auf das Emotionale…“ gebe ich danach mein Kommentar ab.
„Man sagt, Tiere sind Gefühlsmenschen,“ kontert er lächelnd. „Tiere reagieren in allen Situationen nicht rational sondern emotional. Nicht wie wir Menschen, die wir unsere Emotionen vor der Umwelt verstecken, um nicht als Waschlappen zu gelten – und sie dann im stillen Kämmerlein herauslassen… Tiere sind daher oft viel ausgeglichener. Das wirst du feststellen! Ich mag es, wenn du die ganze Gefühlspalette in deiner Rolle zeitnah herauslässt, sei es nun Freude oder Trauer oder alle Abstufungen dazwischen!“
„Damit werde ich mich bestimmt schwer tun,“ meine ich, etwas distanziert.
„Aber, das ist doch völlig normal!“ bricht es aus ihm heraus. Leiser fügt er hinzu: „Ich habe Geduld! Geduld ist das wichtigste Attribut eines Herrn. Ich weiß, dass nichts von Anfang an vorhanden ist, von Anfang an klappt!“
Ich neige den Kopf und sage:
„Ich weiß schon, warum ich mich mit dir getroffen habe, Peter. Trotzdem wird es wohl eine ganze Zeit dauern bis ich ein vollkommen emotionales Lebewesen bin. Im Alltag war bisher anderes gefordert…“
„Die Zeit hast du!“ antwortet Peter in überzeugendem Ton. „Wir beginnen ganz langsam. Zuerst kommen die Nonverbale Kommunikation und die Beschwichtigungssignale.“
„Die ‚sprachlose Verständigung‘ und was für Signale? Warum muss ich dich beschwichtigen? Wirst du schnell sauer?“ frage ich verunsichert.
Peter lacht kurz auf, dann greift er nach meiner Hand und legt seine sanft darüber.
„Echte Hunde können nicht sprechen,“ erklärt er. „Sie kommunizieren trotzdem untereinander und mit uns Menschen. Personen, die jahrelang mit Hunden zusammengelebt haben, können deren Gestik und Mimik im Zusammenhang mit der jeweils aktuellen Situation verstehen. Das nennt man ‚nonverbale Kommunikation‘. Du hast weder einen Schweif, noch bewegliche Ohren. Also ist DEINE nonverbale Kommunikation eingeschränkt. Die Gestik kannst du jedoch erlernen. Dabei sind die Beschwichtigungssignale die wichtigsten: Hunde wollen keinen Streit, also signalisieren sie ‚Ich bin harmlos‘. Außerdem kannst du eine ausgeprägte Mimik zeigen, also zum Beispiel verständnislos gucken, ein freudiges oder trauriges Gesicht machen…“
„Ah,“ mache ich. „Und das bringst du mir alles bei?“
„Ich gebe dir Zeit, dich emotional zu äußern. Und nachher jeweils kommt immer ein wenig positive Manöverkritik, ja,“ bestätigt er lächelnd. „Ich gehe nicht schulmeisterlich vor. Ich sage nur, wo du etwas verbessern könntest.“
„Soll ich dir mal was sagen?“ beichte ich ihm nun. „Ich bin schon ganz kribbelig, wenn ich mich in meiner Phantasie das machen sehe, was du da alles beschrieben hast.“
Peter zuckt lächelnd die Schultern.
„Du hast dir ausdrücklich dieses Treffen nur zum Reden gewünscht. Zum Schauen, ob Sympathie überspringt, wenn wir uns Aug in Aug gegenüber sitzen. Dann wolltest du ein neues Treffen vereinbaren, um das Besprochene einmal auszuprobieren – falls ich dir auch real sympathisch bin!“
„Ja, ich weiß,“ gebe ich zurück, und frage spontan: „Wie findest du mich denn? Könntest du dir mich als deine Doggie vorstellen?“
Peter nickt ernst. Dann lächelt er mir zu.
„Das kann ich! Ich finde dich sehr sympathisch!“
„Mir geht es mit dir genauso,“ gebe ich zu. „Dennoch will ich das Erlebte erst einmal verarbeiten. Du bist mir nicht böse, wenn ich mich verabschiede? Nächstes Wochenende lade ich dich dann zu mir nach Hause ein!“
„Ich habe dir ja vorhin gesagt, dass ich dir jede Zeit der Welt gebe! Ich bestimme den ‚Lehrplan‘ und du die Zeit, die du brauchst! Wer sonst könnte abschätzen, wieviel Zeit du benötigst. - Bist du mit dem Zug hier?“
Ich schüttele aufatmend den Kopf.
„Nein, mit dem Bus.“
Er steht auf und geht an den Tresen im Bahnhofscafe. Ich folge ihm. Als er zahlen will, lege ich drei Euro hinzu. Peter nimmt sie lächelnd. Dann gehen wir aus dem Cafe in Richtung der Bussteige.
„Als Herr bezahle ich aber später unsere gemeinsamen Ausgaben,“ meint er unterwegs.
„Später – ja,“ sage ich und gehe auf die Zehenspitzen.
Ich drücke ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sage augenzwinkernd:
„Bis nächste Woche, mein Herr.“
Er zwinkert zurück, legt seinen Arm um meine Schultern und drückt mich kurz an sich.