Nicci (12)
„Das heißt, ich muss nicht ständig auf allen Vieren sein, wenn wir zusammen sind?“
„Wenn sogenannte Normalos dabei sind oder hinzu kommen könnten – nicht! Ich weiß, dass dir der Vierfüßler-Gang hilft, ins Dog-Space zu finden. Auf zwei Beinen im Dog-Space zu sein, sind gewissermaßen ‚höhere Weihen‘. Also sind wir gleich im Park bloß ein fast normales Paar bei einem Spaziergang…“
„Das heißt, ich darf aufstehen?“ frage ich noch einmal nach.
„Aber ja,“ bestätigt er.
Peter hilft mir beim Aufstehen, dann zieht er seinen Blouson über und hängt sich die Reisetasche über die Schulter. Draußen geht er zuerst zum Auto und verstaut die Tasche, anschließend folgt er mir über den Weg aus feinkörnigem Kies in den Park, der von der Häuserzeile von der Straße getrennt ist. Es handelt sich um eine große Grasfläche, auf der sich mehr oder weniger dicht stehende Laubbäume befinden. Dazwischen verästeln sich mehrere Wege, die zum Flanieren und joggen einladen.
Nach einer Weile beginnt Peter:
„Wie hat dir eigentlich das Wochenende gefallen?“
„Es war lehrreich und spannend,“ antworte ich und schaue Peter dabei an. „Auch die vergangene Nacht hat mir sehr gefallen!“
„Ich bin dir nicht zu alt?“ fragt er und schaut erwartungsvoll.
Ich muss lachen, lehne mich bei Peter an und schlinge meine Arme fest um seinen Brustkorb.
„Bist du nicht!“ antworte ich mit Nachdruck. „Du bist fürsorglich, nicht so egozentrisch wie viele in meinem Alter! Ich habe dich sehr gern!“
Er lächelt fröhlich und meint: „Körperliches und geistiges Alter müssen auch nicht immer konform gehen. Ein reifer Mann kann innerlich ein Junge geblieben sein. Du hast aber auch erlebt, dass ich ein hohes Verantwortungsbewusstsein bekommen habe, im Laufe meines Lebens – das dir nun zugutekommt.“
Dabei grinst er und bückt sich nach einem am Boden liegenden Zweig, den er in ein handliches Stück Holz bricht.
„Dem innerlichen Jungen ist gerade eine Idee gekommen,“ meint er und seine Augen blitzen.
Er zeigt mir den Zweig mit den Bruchstellen an beiden Enden, holt aus und wirft ihn auf die Wiese neben den Weg. Dann schaut er mich an, blinzelt und sagt „HOL!“
Ich schaue dem Zweig hinterher. Als dieser auf dem Boden aufkommt, schaue ich noch einmal mit großen Augen zu Peter auf. Aber er nickt mir nur zu und wiederholt noch einmal „HOL!“
Also laufe ich auf die Wiese, dorthin wo der Zweig gelandet sein muss. Ich sehe ihn liegen und bücke mich danach, um ihn aufzuheben. Dann laufe ich zu Peter zurück und gebe ihm den Zweig. Er nimmt ihn und lässt ihn auf dem Weg fallen. Dann nimmt er mich in den Arm, streicht mir mit der freien Hand zärtlich durch mein Haar und sagt:
„Als mein Doggie trainierst du nicht nur die nonverbale Kommunikation, dann die Hundekommandos – das Dogswimming… Wir spielen auch miteinander und lockern damit das Training auf. Gestern war es das Ballspiel, heute mal das Apportieren. In jedem Fall beschäftige ich mich mit dir, lasse dich nicht links liegen, weil mich etwas anderes als du mehr interessiert!“
Daraufhin steige ich auf meine Zehenspitzen und gebe Peter einen Kuss, den er gerne annimmt, und mich dabei fest umarmt. Ich frage zwinkernd:
„Noch einmal?“
„Gern!“ meint Peter, bückt sich nach dem Zweig neben uns auf dem Weg und wirft ihn wieder auf die Wiese.
Ich laufe dem Holz hinterher, bücke mich danach und bringe es ihm zurück. Peter streckt mir die Hände entgegen, um das Holz in Empfang zu nehmen, aber ich habe mich blitzartig umentschieden.
Ich zeige ihm das Holz und laufe weg. Er steht erst einmal unentschlossen da, dann folgt er mir. Ich lasse mich einfangen und das Holz abnehmen. Dann hänge ich aber schon wieder an seinem Hals und fordere einen Kuss als Belohnung, den er mir bereitwillig gibt. Schließlich gehen wir Hand in Hand zum Parkplatz zurück. Hier steigt er in sein Auto und fährt los, nachdem er mir ein letztes Mal zugewunken hat.
Ich gehe wieder ins Haus zurück. Ich fühle mich gerade irgendwie leer. Als hätte man mir etwas weggenommen.

*

In den folgenden Tagen ertappe ich mich mehrfach, dass ich mit Peter über Whats app Dinge bespreche, die ich sonst mit Alex, meinem Bruder, besprochen hätte. Er zeigt mir Lösungsmöglichkeiten verschiedener Alltagsprobleme und macht mir Mut, sie anzugehen. Anderenfalls würde er sich ihrer annehmen, wenn er wieder zu mir kommt, verspricht er mehrmals.
Dann fragt er mich, ob ich nicht auch einmal zu ihm kommen wollte. Bei ihm gäbe es eine Wald- und Heidelandschaft, die nur zum Teil bewirtschaftet sei. So könnte es vorkommen, dass man tagelang durch Wälder streifen könnte, ohne jemandem zu begegnen – wenn man die richtigen Ecken kennt.
‚Die gibt es sicherlich überall in Deutschland,‘ denke ich mir, bin aber dennoch neugierig geworden.
Zwei Wochen nach unserem ersten Treffen, bekomme ich mein kleines Gehalt als Büromaus, und kann mir die Bahnfahrt leisten. Peter zeigt sich erfreut, mich bei sich begrüßen zu können, und ist auch gar nicht ungeduldig, dass er nun eine Woche länger auf mich warten muss. Ich bin so froh, ihn kennen gelernt zu haben!
Am Donnerstag nach Feierabend fahre ich mit dem Bus zum Bahnhof und schaue mir die Verbindungen an. Da der Fahrplan mich etwas verwirrt, gehe ich doch zum Schalter und warte in der Reihe bis ich dran bin. Dann lasse ich mir für den darauffolgenden Tag gleich nach Feierabend eine Zugverbindung heraussuchen, die ich auch sofort buche. Mit der Fahrkarte in der Hand fahre ich nach Hause und informiere Peter unterwegs aus dem Bus darüber. Er verspricht mir zur Ankunftszeit am Gleis zu stehen.
Ich muss einmal umsteigen und dort eine knappe Stunde warten, was mir wie eine kleine Ewigkeit vorkommt. Dann geht es mit einem Zug weiter, der an jedem kleinen Bahnhof hält. Auch ist die Gegend hier viel dünner besiedelt, als ich das von klein auf kenne. Schließlich erreicht der Zug meinen Zielbahnhof und ich steige aus. Aus Richtung des Bahnhofsgebäude sehe ich Peter auf mich zu kommen und gehe ihm freudig entgegen. Wir begrüßen uns mit einer Umarmung.
Er nimmt mir meine kleine Reisetasche ab und geht mit mir zum Bahnhofsgebäude zurück. Kurz davor biegt er in Richtung eines großen Kreisverkehrs ab. Dazu gehen wir neben dem Gebäude durch ein Tor im Zaun. Draußen überqueren wir die Straße, auf der auch die Busse ihre Passagiere zum Bahnhof bringen. In der Mitte des Kreisverkehrs ist der Pkw-Parkplatz. Dorthin führt er mich. Dann fahren wir in einen kleinen Ort, etwa zwanzig Minuten entfernt, wo er vor einem Haus mit Einliegerwohnung parkt.
Nachdem wir ausgestiegen sind führt er mich zu dieser Wohnung und schließt mir auf. Er zeigt mir die gemütlich eingerichtete Zweizimmerwohnung und bemerkt dabei, dass sich das Wohnzimmer mittels Schlafcouch auch in ein Schlafzimmer verwandeln ließe. Ich schaue ihn schräg von der Seite an und frage:
„Magst du mich nicht in deiner Nähe haben?“
Er sieht wohl meinen enttäuschten Gesichtsausdruck und nimmt mich in die Arme.