Reiko -16-
Wir haben noch eine Menge Zeit. Die beiden Menschen gehen nun mit mir auf den Wettkampfplatz. Die Hindernisse sind hier nicht, wie zuhause, in einer Acht angeordnet, sondern wirken wie zufällig auf das Feld verteilt.
Nun heißt es achtgeben und sich die Reihenfolge der Hindernisse einprägen. In der Klasse E muss ich sieben Hindernisse schaffen, die maximal 90 Zentimeter hoch sind. Das habe ich oft genug geübt! Während wir die Hindernisse abgehen und erkenne ich, dass das jeweils nächste Hindernis immer links zu finden ist. Also scheint das auch keine Schwierigkeit darzustellen.
Nachdem wir die Hindernisse zweimal abgegangen sind, soll ich einmal daran vorbeitraben. Vor dem Hoch-Weit-Hindernis gehe ich kurz in den Galopp. Danach führt Osawa-San mich auf eine nahe Koppel, wo ich einige Runden traben soll, um mich warm zu machen.
Als der Wettkampf schon läuft und die Koppel dadurch fast leer ist bringt sie ein paar Stangen an das Gatter der Koppel und lässt mich diese überspringen. Ich trabe dafür links herum um die Koppel, damit ich mir den Bewegungsablauf einpräge.
Endlich ist die Reihenfolge an mir. Osawa-San führt mich an der Führleine zum Startpunkt. Der Wettkampfleiter stellt mich den Zuschauern vor und meine Trainerin löst die Führleine vom Zaumzeug. Ich beiße auf die Trense und als die Glocke ertönt laufe ich los. Jetzt kommt es darauf an!
Am Rand des Wettkampfplatzes sind die Zuschauer verstummt. Die dumpfen Geräusche meiner Hufe sind das Einzige, was ich wahrnehme.
Wenige Sekunden später kommt eine kleine Hürde. Obwohl ich noch nicht die volle Geschwindigkeit drauf habe, überspringe ich das Hindernis ohne ein Problem. Während ich ein Bein anhebe bis sich der Oberschenkel waagerecht zum Erdboden befindet und den Unterschenkel schwungvoll nach vorne werfe, hat mein anderes Bein den Absprung eingeleitet und bewegt sich nun nach hinten. Dabei hebe ich den Huf über meinen Hintern hoch.
Ich ?fliege? förmlich über das Hindernis und komme dahinter mit dem vorderen Bein zuerst wieder auf. Mit dem Aufkommen des hinteren Beines auf den Boden finde ich mein Gleichgewicht und wende mich dahinter etwas nach links, beschleunige in den Galopp und überspringe gleichzeitig zwei Hürden, die einen halben Meter hintereinander aufgebaut, aber nicht höher als das erste Hindernis sind. Ich schaffe den weiten Sprung und Euphorie will sich in mir breitmachen. Doch noch habe ich den Parcours nicht geschafft.
Ich konzentriere mich auf die Sprungtechnik, die mir Osawa-San beigebracht hat und sehe das nächste Hindernis auf mich zukommen. Es ist ein einfaches Hindernis. Mich auf die Mitte der Stangen konzentrierend, überspringe ich auch dieses ohne eine der Stangen zu reißen.
Dahinter muss ich eine enge Kurve nach links laufen und wieder kommt ein Hindernis aus zwei Hürden. Wieder beschleunige ich in den Galopp und überspringe diese Doppelhürde. Dahinter trabe ich mit lockeren Bewegungen einen größeren Halbkreis. Mein Schweif wippt im Takt der Schritte. Nun wird es schwieriger.
Das fünfte Hindernis bedeutet für mich einen Dreifach-Sprung. Zuerst sind wieder zwei Hürden gleichzeitig zu überspringen. Kaum haben meine Hufe wieder Bodenkontakt, muss ich fast aus dem Stand eine einzelne Hürde überspringen und schließlich noch einmal eine Doppelhürde.
Routiniert meistere ich die Schwierigkeit und trabe einen weiteren Viertelkreis. Dort erwartet mich eine einzelne Hürde. Jetzt nur nicht leichtsinnig werden! Als ich auch dieses Hindernis mit Bravour geschafft habe, trabe ich mit federnden Schritten in einem leichten Bogen auf zwei hohe Hürden zu, die ähnlich kurz hintereinanderstehen, wie es eben bei dem Dreifach-Sprung gewesen ist.
Kaum habe ich das erste hohe Hindernis übersprungen, kommt ein zweites hohe, aber auch weite Hindernis. Dort steht eine niedrige Hürde hinter der hohen, die ich nicht reißen darf. Hier darf ich meine Beine nicht zu früh herunternehmen.
Wieder muss ich einen Viertelkreis traben und eine einfache Hürde überspringen. Endlich kann ich auslaufen, langsamer werden. Mein Ziel ist erreicht. Zufrieden schnaubend bleibe ich stehen. Der Schweif kitzelt in den Kniekehlen.
Mein Brustkorb hebt und senkt sich rasch. Mein Herz klopft von innen gegen die Rippen. Speichel tropft von meinem Kinn und der Schweiß läuft mir in die Augen. Ich habe es geschafft! Applaus schallt von überall her. Eine Frauenstimme lobt:
?Das hast du gut gemacht!?
Osawa-San hat mich erreicht und klinkt die Führleine ins Zaumzeug. Ich nicke schwach mit dem Kopf, zu mehr bin ich nicht mehr in der Lage. Meine Trainerin führt mich langsam vom Wettkampfplatz herunter.
?Na komm, ich bring dich zurück zum Gespann,? sagt sie in sanftem Ton.
Dort trocknet sie mich mit einem Handtuch ab und nimmt die Trense aus dem Zaumzeug. Es ist Vorschrift, dass alle Uma-onna während der Wettkämpfe eine Trense tragen. Ich freue mich nun, mich wieder auf dem Faltbett niederlassen zu dürfen, dass im Gang neben den beiden Boxen für mich aufgebaut wurde.
?Ne, Reiko-chan, mewosamasu! -Hey, Reiko-chan, aufwachen!- Du willst doch bestimmt nicht die Siegerehrung verpassen??
Die Stimme meiner Trainerin dringt in meine Träume. Erst allmählich wird mir bewusst, wo ich bin und was passiert ist. Ich öffne die Augen. Schwerfällig richte ich mich auf. Sie wringt einen Lappen in einem Eimer Wasser aus und fährt mir damit sanft über Stirn, Wangen und Schultern. Langsam kehren meine Lebensgeister zurück.
Ich stille meinen momentanen Hunger und den Durst. In wenigen Minuten werde ich erfahren, welchen Platz ich errungen habe. Osama-San greift nach meinem Zaumzeug und setzt die Trense wieder ein. Anschließend bürstet sie mit einer kleinen Bürste meine Mähne wieder ordentlich. Schließlich klinkt meine Trainerin die Führleine an mein Zaumzeug und führt mich auf den Wettkampfplatz zurück.
Meine Unruhe wächst. Auf dem Platz haben sich schon einige Menschen mit ihren Uma-onna -Pferdfrauen- eingefunden. Sie stehen auf dem Sandplatz und warten darauf, dass es losgeht. Meine Trainerin führt mich zu Watanabe-San, der auch hier etwas abseits steht.
Nach wenigen Minuten ergreift der Wettkampfleiter über ein Megaphon das Wort. Sofort verstummen die Gespräche.
?Minasama -Meine Damen und Herren-, jusho-shiki e yokoso! -herzlich willkommen zur Siegerehrung-!?
In einer kurzen Pause applaudiert das Publikum.
?Alle Uma-onna -Pferdfrauen- haben tolle Leistungen gezeigt und ihr Können bewiesen!? lobt er uns. Wieder klatschen die Zuschauer.
hrpeter am 17. Juni 21
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