Donnerstag, 9. November 2023
Geräusche der Nacht -04
Heute ist der Tag ihrer Verwandlung gekommen. Wenn der Mond aufgeht, wird sie es zum ersten Mal erleben. Meister Ulik und die beiden anderen Druiden haben sie gründlich darauf vorbereitet und den Vorgang beschrieben: Die Wölfin in ihrem Inneren würde hervortreten. Es wäre in etwa so, wie ein Schmetterling, der sich aus seiner Puppe befreit. Nur, dass die leere Puppe nicht zurückbleibt, sondern der Mensch existiert in der Wölfin weiter, so wie jetzt die Wölfin in ihr existiert.

Mit viel Willenskraft ist es ihr in diesem Zustand trotzdem möglich, die Handlungen der Wölfin zu steuern. Sie muss allerdings wissen, dass die Wölfin einen unbändigen Bewegungsdrang hat. Ist die Wölfin zutage getreten, würde sie die feinen Sinne des Tieres erfahren und ihre Kraft. Sie würde die Nacht erleben wie keine zuvor. Innerlich hat Marga ein beklemmendes Gefühl.

Als die Sonne untergeht, verlassen alle den 'Bau'. Marga hat sich umgezogen. Die Meister haben ihr ein Gewand aus Leinen zum Anziehen gegeben, das über und über mit kraftvollen Runen aus Buchenstäbchen bedeckt ist. Sie wurden mit Nähgarn aus Wolle auf den Stoff genäht. Auf Unterkleidung solle sie verzichten, hat Gwydion ihr gesagt.

Nun stehen sie alle vor der großen Eiche und halten sich an den Händen. Die Druiden und auch Hannes murmeln uralte Gebete. Nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, wird es allmählich dunkler. Die bleiche Scheibe des Vollmondes wird immer deutlicher und heller am Himmel. Marga fühlt ein Prickeln am ganzen Körper. Plötzlich hat sie das Gefühl zu wachsen. Gleichzeitig spürt sie den unbändigen Drang, sich hinzuhocken.

Sie lässt die Hände der Anderen rechts und links los und gibt dem Drang nach. Sofort greifen sich ihre Nachbarn an den Händen und nehmen sie in die Mitte. Der Stoff reißt und als sie an sich herunterschaut, erkennt sie zwei kräftige behaarte Vorderbeine, ausgehend von ihren Schultern. Daran Pfoten, die rennen wollen. Sinneseindrücke stürmen auf ihr Gehirn ein. Die Nacht ist plötzlich angefüllt von Gerüchen und Tönen. Sie heult ungeduldig. Sie dreht sich im Kreis, um nach allen Seiten zu wittern. Sie hechelt. Ihre Läufe zucken. Innerlich ruft sie sich zur Ruhe.

'Jetzt noch nicht!' befiehlt Marga der Kreatur gedanklich, in deren Inneren sie jetzt steckt.

Sie duckt sich und knurrt, bleibt aber auf ihrem Platz inmitten der Anderen. Das gibt ihr Selbstvertrauen. Plötzlich ist da noch ein starker Wolf neben ihr. In den Augenwinkeln erkennt sie, dass nur noch die Druiden menschliche Gestalt haben. Also ist es Hannes, der sich neben ihr befindet. In ihrem Kopf formen sich fremde Gedanken:

'Adieu, Marga! Renn so schnell und so weit du kannst!'

Hannes drückt in ihre Seite und schiebt sie fort.

'Nein! Ich habe mich doch gar nicht richtig von euch allen verabschieden können!' formuliert Marga in Gedanken.

'Bitte! Du kannst uns jederzeit besuchen, wenn du magst. Doch jetzt lauf!'

Hannes rammt seinen Kopf in Margas Seite und schiebt sie weiter. Marga setzt zu einem Sprung an und entfernt sich von der Eiche. Dann rennt sie los. Sie rennt und rennt, bis sie ausgelaugt ist. Erschöpft legt sie sich auf das Moospolster des Waldbodens. Rings um sie ragen Bäume in die Höhe. Wie von selbst kommt ihre menschliche Gestalt zum Vorschein. Nackt, schutzlos und zitternd liegt sie auf dem Moos.