Mittwoch, 22. Mai 2024
Geräusche der Nacht -70
Nun stehen wir alle unter dem Sternenhimmel und halten uns an den Händen. Die Druiden, Liam und Grete murmeln uralte Gebete. Die bleiche Scheibe des Vollmondes wird am Horizont sichtbar. Ich fühle ein Prickeln am ganzen Körper. Plötzlich habe ich das Gefühl zu wachsen. Gleichzeitig drängt es mich dazu, mich hinzuhocken.

Ich lasse die Hände der Anderen los und gebe dem Drang nach. Sofort greifen sich meine Nachbarn an den Händen und nehmen mich in ihre Mitte. Stoff reißt und als ich an mir herunterschaue, sehe ich zwei kräftige behaarte Vorderläufe, ausgehend von meinen Schultern. Zuckende Pfoten, die rennen wollen, stützen sich auf dem Gras auf. Sinneseindrücke strömen auf mein Gehirn ein. Die Nacht ist plötzlich angefüllt von starken Gerüchen und lauten Tönen. Ich hebe den Kopf gen Himmel und heule den Mond an. Ich hechele. Meine Läufe zucken. Ich ducke mich und setze zu einem Sprung an.

Nachdem ich den Boden wieder berührt habe, hetze ich mit weiten Sätzen in das Waldgebiet, dass 'Dair' einschließt. Plötzlich sehe ich neben mir eine schlanke rotbraune Wölfin. Sie begleitet mich eine kurze Strecke und bleibt dann stehen. In meinem Kopf formen sich fremde Gedanken. Ich meine, Grete zu erkennen, die sagt:

'Auf Wiedersehen, Laura. Renn so schnell und so weit du kannst!'

*

Ich renne und renne, bis die Wölfin zufrieden ist. Auf einer bemoosten Stelle komme ich zur Ruhe und lege mich ab. Wie von selbst kommt meine menschliche Gestalt zum Vorschein. Meine Fußballen schmerzen ein wenig. Vor Erschöpfung schlafe ich ein. Nackt und zitternd liege ich auf dem Moos. Dass sich bald eine schlanke rotbraune Wölfin zu mir legt und mich wärmt, bemerke ich erst, als die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages schräg durch das Laub der Bäume brechen.

Ich richte mich in sitzende Position auf und schaue mich um. Die Wölfin neben mir öffnet ihre Augen und beobachtet mich. Ich lächele und kraule sie hinter den Ohren. Sie brummt leise und dreht sich so, dass ich besser drankomme. Dann denke ich intensiv:

'Wo ist Liam mit meiner Kleidung?'

Die Wölfin erhebt sich auf alle Viere, streicht an meiner Schulter entlang und schon verstehe ich gedanklich die Worte:
'Ich hole ihn! Bleib hier, wenn möglich.'

Dann verlässt sie mich. Beim Wandern bin ich immer auf den Wegen geblieben. So weiß ich im Augenblick nicht, wo ich mich befinde. Es dauert einige Zeit, bis sich ein kleiner Wirbelsturm einige Meter entfernt bildet. Er dauert vielleicht eine Sekunde, dann fällt er in sich zusammen und Liam steht dort mit Grete an seiner Seite. Grete ist so nackt wie ich.

Beide kommen auf mich zu. Während Liam mir die Tasche mit meiner Kleidung übergibt, lässt Grete einen Tropfen aus einer bauchigen Flasche auf den Waldboden fallen. Danach befindet sie sich im Auge einer Windhose und ist einen Sekundenbruchteil darauf verschwunden.