Samstag, 25. Mai 2024
Geräusche der Nacht -71
Ich drehe Liam meinen Rücken zu und kleide mich an. Danach zieht auch er solch eine Flasche aus seiner Jacke, stellt sich nahe an mich, berührt mich und lässt mit der anderen Hand einen Tropfen auf den Waldboden fallen. Nun beginnen sich die Bäume um mich zu drehen und kurz darauf stehen wir vor meiner Wohnung.

Liam anlächelnd sage ich:
"Vielen Dank! Sag' mal, Gelnhausen liegt ja nicht soweit von Frankfurt entfernt. Können wir uns nicht mal treffen und gemeinsam was unternehmen?"

"Theoretisch ja, Laura. Praktisch gibt es da ein kleines Problem. Ich spreche mal mit Sophie darüber."

"Was für ein Problem?"

"Wegen der Werwölfe sollten sich nicht zu viele Gestaltwandler an einem Fleck befinden, Laura. Frankfurt ist eine große Stadt. Dort leben im Augenblick schon drei Gestaltwandler. Gelnhausen beherbergt schon ein Pärchen. Das halte ich aus Sicherheitsgründen für die Höchstzahl. Gerne kannst du uns in Frankfurt besuchen, wenn du magst."

"Ich kann euch ja antexten, wenn du mir deine Nummer gibst," schlage ich vor.

Liam nickt. Er holt sein Handy hervor und ruft seine Nummer aus dem Verzeichnis aufs Display. Ich schreibe sie ab und bedanke mich. Dann verschwindet er in einem Luftwirbel. Ich stecke meinen Schlüssel ins Schloss und betrete kurz darauf meine Wohnung, um mich im Wohnzimmer erst einmal auf die Couch fallen zu lassen. Ich muss zuerst die neuen Eindrücke verarbeiten.

Ich weiß gerade nicht, was ich meinem Arbeitgeber sagen soll, dass ich drei Wochen lang nicht zur Arbeit gekommen bin. Nach längerer Überlegung entschließe ich mich zur Kündigung meiner bisherigen Arbeitsstelle.

*

--Mai 2021 Gelnhausen / Kassel--

Ich habe mir überlegt, was am besten zu mir passt. Wenn ich meine Tage mit etwas ausfülle, das mir Spaß macht, werde ich mir den Feierabend kaum herbeisehnen, wie während der Büroarbeit. Sondern ich werde irgendwann im Laufe des Tages überrascht feststellen, dass schon Feierabend ist. Also höre ich mich um und entscheide mich bald für die Mitarbeit bei der Tafel. Meine Jogging-Runden an den Abenden behalte ich aber bei.

An einer dieser Runden entdecke ich ein verletztes Tier im Gras am Wegrand. Ich bleibe stehen und nähere mich ihm vorsichtig. Es ist ein junger schwarzhaariger Wolf. Ich schnüffele und meine, ihn zu kennen. Es muss sich dem Geruch nach um Valerij aus Arkadijs Gruppe handeln, oder Rudel, wie es richtiger heißt. Er ist dort kaum aufgefallen, weil er von den anderen immer wie ein Dienstbote behandelt worden ist.

Er blutet aus mehreren Wunden, also kann die Attacke noch nicht lange her sein, der er zum Opfer gefallen ist. Ich hocke mich neben ihn und beginne, ihn zu streicheln. Langsam öffnet er die Augen.

"Was haben sie mit dir gemacht, Valerij?" flüstere ich mit sanfter Stimme.

Ich ziehe mein Handy hervor und wähle Liams Nummer. Ihm erzähle ich von meinem Fund. Er scheint alarmiert und verspricht, in wenigen Minuten bei mir zu sein. Gut fünf Minuten später entsteht in meiner Nähe ein gewaltiger Luftwirbel, aus dem sechs riesige Wölfe materialisieren und Liam. Letzterer schaut sich um und kommt auf mich zu. Eine schlanke Wölfin mit rotbraunem Fell ist schon vor ihm bei mir. Ich erkenne Grete in ihr. Sie untersucht schnüffelnd den verletzten Wolf. Die anderen Wölfe umkreisen uns und wittern nach allen Seiten.