Mittwoch, 4. September 2024
Geräusche der Nacht -105
Zufällig auf dem Bürgersteig vorbeigehende Passanten kommen herbeigelaufen und tragen mich auf den Bürgersteig. Der Autofahrer ist ausgestiegen und steht irgendwie verloren neben seinem Fahrzeug. Immer wieder kurz kopfschüttelnd murmelt er:

„Das wollte ich nicht… Das wollte ich nicht…“

Einer der herbeigeeilten Passanten beginnt mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Der Andere läuft in die Bäckerei und fragt aufgeregt:

„Haben Sie ein Telefon?“

Die Chefin bestätigt das.

„Rufen Sie bitte Polizei und Krankenwagen! Bitte schnell!“

Die Chefin wählt mit zitternden Händen die Notfallnummer, die hier in der französischen Besatzungszone seit Kurzem gilt und kurz darauf sind die Ambulance Militaire und die Beamten der örtlichen Gendarmerie eingetroffen. Sie nehmen den Unfall auf. Der Krankenwagen bringt mich ins Hôpital Militaire, wo man wegen fehlender Diagnosegeräte schnell meinen angeblichen Tod feststellt.

Ich werde in ein spezielles Zimmer verlegt. Meine Knochenbrüche heilen langsam wieder, aufgrund meiner besonderen Eigenschaften als Gestaltwandler. Die oberflächlichen Wunden haben sich schon bald geschlossen. Ich rühre mich auf der Liege nicht, sondern spiele eine Leiche. Nur des Nachts, nachdem ich die Schichtwechsel des Personals heraushabe, versetze ich mich nach ‚Dair‘ um ausgiebig zu essen und der Wölfin in mir Auslauf zu gewähren.

Nach einer Woche werde ich von Bestattern abgeholt und in der Kapelle des städtischen Friedhofs aufgebahrt. Man macht mich schön zurecht und schminkt mich sogar. Während der Trauerfeier linse ich unter den Lidern hervor. Nur wenige Meter von mir entfernt steht Helmut in seinem besten Anzug mit einer knielangen Hose. Neben ihm haben sich Chef und Chefin aufgestellt, in Schwarz gekleidet. Vorne am Altar befinden sich der Priester und zwei Messdiener. Ein paar alte Leute füllen die Bänke.

In Helmuts Gedanken lese ich:
‚Hoffentlich ist das hier bald vorbei, Mama steht auf und wir gehen nachhause.‘

Dazu sehe ich das Bild von Schneewittchen in seinen Gedanken materialisieren. Grimms Märchen haben seine Kindheit begleitet. Wenn sie ihm helfen, über den Verlust hinweg zu kommen, ist das gut!

Als die Zeremonie beendet ist und die Menschen die Kapelle verlassen, kommen die Bestatter zu mir, legen den Deckel auf und fahren den Sarg mit mir weg. Kurz darauf spüre ich, wie der Sarg schaukelt. Man lässt ihn wohl in das Grab hinab. Anschließend höre ich Erde auf den Sarg fallen.
‚Nun ist es genug,‘ denke ich, lasse einen Tropfen aus einer bauchigen Flasche aus Ton neben mich fallen und sage laut: „Dair!“

Die Trauergesellschaft wird sich über die Windhose wundern, die aus einer Wolke am Himmel kommt und den Sarg berührt. Dabei wirbelt sie das lose Erdreich im ausgeschachteten Grab herum. Im nächsten Moment materialisiere ich bei den Druiden. Ich nehme meine Arbeit als Wächterin in den nächsten Jahren von ‚Dair‘ aus wieder auf.

*