Montag, 16. September 2024
Geräusche der Nacht -109
Nun lecke ich der älteren Frau durch das Gesicht. Ihre Lebensgeister erwachen wieder und sie kämpft sich in sitzende Haltung hoch. Dabei fällt ihr Blick auf mich und sie beginnt hysterisch zu schreien. Das hören jetzt andere Wanderer und kommen schnell näher. Für mich wird es Zeit zu verschwinden.

Ich hetze von dannen und bin vier Stunden später wieder zuhause in Trier, muss aber noch die Nacht abwarten, um ungesehen nackt in meine Wohnung zu gelangen. Drinnen kleide ich mich sogleich wieder an und räume die Scherben auf die Seite, die der Minitornado verursacht hat.

Nun bringe ich Ordnung in die Einrichtung und versetze mich nach 'Dair'. Ich gehe die Wendeltreppe hinunter und durch den Tunnel bis vor die schwere eichene Tür. Dort gebe ich das Klopfzeichen. Meister Aidan öffnet mir und bittet mich an den Tisch. Dann berichte ich von meinem Erlebnis im Hunsrück.

Meister Gwydion verspricht mir, sich um die Sache zu kümmern. Er übergibt mir eine neue Flasche mit der Flüssigkeit und ich versetze mich damit zurück in meine Wohnung.

Am nächsten Morgen, Montag, gehe ich in aller Frühe zu meiner Arbeitsstelle. Helmut kommt aus der Backstube, wo er schon seit zwei Uhr backt, und leert das Riesentablett mit frischen Brötchen ins Schaufenster. Dann wendet er sich uns zu und erklärt:

"Die Chefin kommt heute nicht... Sie wird nie wieder kommen! Sie ist gestern während unseres Spaziergangs bei Kasel von einem riesigen Wolf getötet worden..."

Er bricht ab, um sich die Tränen mit seiner Bäckerschütze aus dem Gesicht zu wischen. Ich trete vor und meine:

"Das ist ja schrecklich! - Sie können sich auf uns verlassen, Herr Franck! Wir schaffen den Verkauf auch weiterhin, genauso als würde unsere liebe Chefin noch leben."

Die beiden anderen Verkäuferinnen stehen erschrocken mit aufgerissenen Augen da und nicken. Eine der Beiden flüstert "Jesus, Maria und Josef..."

Wir arbeiten weiter. Unsere Kunden trösten uns. Aber irgendwann ebbt das ab und Wochen später hat uns der Alltag wieder. Helmut vergräbt sich in seine Arbeit. Abends spüre ich, wie die Trauer in ihm aufsteigt. Kommt ihm die hellbraune Wölfin in den Sinn, spüre ich das Gefühl der Erleichterung in ihm.

'Ohne sie,' denkt er dabei, 'hätten wir möglicherweise alle nicht überlebt.'

Das wiederum, gibt mir die Bestätigung, weiterzumachen.

Eine Woche nach dem Tod wird Frau Franck auf dem städtischen Friedhof beerdigt. Aus Anteilnahme gegenüber Helmut und seiner Familie nehme ich an der Beerdigung teil, bleibe aber der Feier fern. Dort treffen sich nur die Verwandten.

Max erhält erst ein Jahr später seine Schultüte. Er darf ein Jahr länger zum Kindergarten gehen und spielend seine schlimme Erfahrung verarbeiten. Ungefähr zur selben Zeit steht Helmut erneut vor dem Altar. In den Heiratsanzeigen auf der letzten Seite der Kirchenzeitung hat er eine junge Frau kennengelernt. Sie haben sich verliebt.

Zwar kommt sie aus einer Kleinstadt, 200 Kilometer entfernt, aber das ist für seinen Ford 12 M kein Problem.

Nach der Hochzeit zieht sie in die Wohnung über der Bäckerei ein. Max und Margarethe kennen sie aus den wenigen Besuchen als 'Tante Daniela'. Nun sollen sie 'Mama' zu ihr sagen. Irgendwie will das zumindest bei Max nicht funktionieren.