Dienstag, 1. Oktober 2024
Geräusche der Nacht -114
"Hm," macht Laura und schaut zu Boden.

Ich lasse sie über das Gehörte nachdenken, denn es ist schon eine schwer verdauliche Kost. Ich erkläre nur noch:

"Wir Gestaltwandler sind jedenfalls alles, nur keine Monster!"

Sie hebt den Blick und schaut mich an.

"Woher kommt dann diese Angst der Menschen vor den Wölfen? Das steigert sich ja manchmal in eine regelrecht krankhafte Phobie!"

"Es handelt sich dabei um eine sogenannte Urangst. Sie ist heutzutage eher krankhaft und irrational, wie du richtig sagst, denn die biologischen Wölfe, die heute leben, halten sich von den Menschen fern. Aber es sind immer noch Beutegreifer. Sie ernähren sich zumeist von alten, kranken und verletzten Tieren, so dass sie gewissermaßen eine Art Gesundheitspolizei der Natur sind. Biologische Wölfe können aber nicht zwischen Wildtieren und Vieh unterscheiden.
Die Urangst sitzt tief im Menschen. Sie stammt aus einer Zeit, als der Mensch noch nicht unangefochten an der Spitze der Nahrungskette stand. Bis vor 13.000 Jahren lebte der Canis dirus, ein Wolf, der 30cm höher und länger war als der heutige Canis lupus. Es kam immer wieder vor, dass der damalige Mensch zu dessen Jagdbeute wurde."

"Ah, davon habe ich noch nie gehört," gibt sie zu.

"Nun ja, heute werden immer wieder in aufgetauten Permafrostböden vollständig erhaltene Tiere entdeckt..."

"Ah, da hat man auch so einen Riesenwolf entdeckt?"

Ich nicke nur dazu.

"Noch etwas muss ich dir erzählen, Laura. Wenn du nach deiner ersten Wandlung wieder zu den Menschen gehst und unter ihnen lebst, gehe keine tiefen emotionalen Bindungen ein! Ein Mensch hat eine gewisse Lebensspanne. Er altert und stirbt irgendwann. In den Augen der Menschen scheinst du dagegen nicht zu altern. Das führt bei starken emotionalen Bindungen zu verschiedenen Irritationen."

Sie schaut mich mit großen Augen an und fragt atemlos:
"Zu welchen?"

"Entflammst du in Liebe, könntest du versucht sein deinen Partner zu beißen, damit er mit dir alt wird. Und damit du ihn nicht irgendwann begraben musst und tief traurig bist. Damit übertrittst du aber ein Tabu und die Meister trennen euch. Es wäre in so einem Fall besser, du begräbst deinen Partner, wenn er stirbt, und erinnerst dich in Dankbarkeit an ihn, dass du seine Lebensspanne mit ihm verbringen durftest.
Fühlst du dich nicht stark genug dafür, dann sollten deine Bindungen den Kollegenstatus nicht überschreiten, allenfalls Freundschaften sind erlaubt."

"Okay," meint Laura nun. "Wenn der Andere sich aber nun in mich verliebt, soll ich mich dann zurückziehen und damit quasi ein Herz brechen?"

"Du solltest dich dann prüfen und ehrlich mit deinem Freund darüber sprechen. Wir haben ein Pärchen, wo er ein Gestaltwandler ist und sie inzwischen eine Eingeweihte. Beide Partner wohnen in verschiedenen Wohnungen in verschiedenen Stadtteilen der gleichen Stadt. Sie können sich also gegenseitig besuchen.
Stell' dir einmal folgendes Szenario vor: Du lernst jemand kennen und verliebst dich. Jetzt ist für eure Umwelt alles okay. In 20 und mehr Jahren ziehen die gleichen Leute aber über euch her 'Guck' mal, der alte Bock mit der jungen Frau! Der muss ja jede Menge Kohle haben, sonst wäre sie schon längst über alle Berge.'
Besucht ihr euch aber gegenseitig, dann interpretieren die Leute eure Beziehung später als Vater-Tochter- oder Opa-Enkelin-Beziehung. Was hinter der Wohnungstür passiert, interessiert niemanden."