Reiko -1-
Ich nähere mich gemessenen Schrittes meinem ehrenwerten Outo-San -Vater- und knie mich mit geschlossenen Knien vor ihn, um mich tief zu verbeugen. Er hat mich zu sich rufen lassen und ich bin seinem Ruf sofort gefolgt.
Mit belegter Stimme erklärt er mir:
?Reiko-chan, du warst einmal meine geliebte Tochter, mein Augenstern. Was mir aber in der letzten Zeit zu Ohren gekommen ist, stimmt mich traurig!?
Er entscheidet, dass ich morgen in aller Frühe zu unserem Familienschrein aufbrechen muss, um dem Kami ein Opfer zu bringen. Damit bin ich entlassen und entferne mich unter Verbeugungen rückwärtsgehend.
Ich begebe mich in mein Zimmer und versuche zu schlafen. Nach einiger Zeit falle ich in einen unruhigen Schlaf, währenddessen ich mich auf dem Futton herumwälze.

*

Nach der Highschool bin ich für ein amerikanisches Mode-Label entdeckt worden. Bald habe ich sehr viel Geld verdient und mich in den teuersten Clubs der Hauptstadt vergnügt. Auf die Anderen habe ich alsbald herabgeschaut. Meine früheren Bekannten aus der Provinz sind mir wie Bauerntrampel erschienen.
Dieser ausschweifende Lebenswandel und meine Überheblichkeit sind an meinen ehrenwerten Vater herangetragen worden. Nun hat er mich aus der Hauptstadt zurückbeordert. Offensichtlich ist es seine Absicht, mich wieder zu erden.
Nach der unruhigen Nacht im Haus meiner Eltern bin ich sehr früh aufgestanden. Mama ist schon in der Küche beschäftigt, um Papa ein Lunchpaket für die Arbeit zu bereiten. Ich gehe zur Haustür, stelle meine Pantoffeln in eine Ecke und ziehe meine Schuhe an.
?Ittekimasu -Ich gehe und komme wieder-?, sage ich.
Mama ruft mir ?Itterasshai -Bitte gehe und komm wieder-? hinterher und ich trete vor das Haus, um mich auf den Weg zu machen.
Der Schrein unserer Familie liegt einige Kilometer entfernt auf einem flachen Hügel. Unterwegs habe ich mehrfach meine Geldtasche geöffnet und ärmeren Menschen, die mir begegnen ein großzügiges Geschenk gemacht.
Meist sind es Feldarbeiter oder Hirten, die sich daraufhin verbeugen und mir Glück wünschen. Schließlich durchschreite ich das rote Torii -Tor- vor dem Schrein meiner Ahnen. Der Weg führt leicht bergan. Rechts und links wird er von Bäumen gesäumt.
Auf dem Plateau des Hügels steht eine unscheinbare Hütte, die ich nun betrete und mich ehrfurchtsvoll tief vor dem Shinto-Priester verbeuge. Ich erhalte ein Bündel Räucherstäbchen, stelle sie vor ein Bildnis und zünde sie an.
Ihr Rauch umhüllt mich mehr und mehr. Meine Umgebung verschwimmt, als befände ich mich im Nebel. Ein schnell größer werdender Punkt fesselt meinen Blick. Daraus entsteht beim Näherkommen ein Samurai in seiner alten Rüstung. Ich lasse mich zu Boden sinken.
Der Kami unserer Ahnen ist in der Gestalt eines unserer Ahnen materialisiert und wird nun sicher seinen Richtspruch über mich fällen?
Als mich der Samurai erreicht hat, geht er wortlos in die Hocke, nimmt mich unter den Achseln und den Kniekehlen und hebt mich an. Dann schreitet er mit mir in seinen Armen davon. Seine Schritte haben eine große Weite, denn es entsteht ein starker Luftzug. Trotzdem lichtet sich der Nebel nicht.
Als seine Schritte kürzer, der Luftzug schwächer wird, beginnt sich auch der Nebel zu lichten. Wir befinden uns im Hof eines Bauernhauses mit Stallungen. Mein Kami trägt mich durch das Tor eines Stalles. Es ist nur ein kleiner Pferdestall mit zwei Boxen. Eine Box ist mit einem robusten Kampfpferd belegt.
Der Samurai trägt mich in die leere Box daneben und legt mich auf einem Strohhaufen ab. Danach schaut er in den Futter- und Wassertrog und geht zu seinem Pferd, neben mir. Er spricht zärtlich auf das edle Tier ein und kümmert sich auch dort um Nahrung und Wasser. Danach verlässt er den Stall und verschwindet, löst sich quasi in Luft auf. Ich werde müde und schlafe ein.

*

Als ich wieder wach werde, muss ich mich erst einmal orientieren. Ich liege auf einem Strohhaufen in einer Box aus Holz. Neben mir in der Nachbarbox scharrt ein Pferd. Langsam erinnere ich mich an meinen Bußgang zum Schrein unserer Familie und den vorgeschriebenen Spenden auf dem Weg dorthin.
Ich erinnere mich an den Rauch der Räucherstäbchen und das Erscheinen eines Samurai in seiner Rüstung aus alter Zeit. Er hat mich hierher gebracht, wo immer das auch sein wird, vielleicht liegt der Ort noch nicht einmal in der realen Welt.
Ich setze mich auf und fühle mich in diesem Moment vollkommen nackt. Mein schönes langes Haar ist geschoren bis auf einen Streifen kurzes Haar in der Kopfmitte. Da mein Magen mir mit einem Grollen seine Leere signalisiert, versuche ich aufzustehen. Es gestaltet sich schwierig, weil meine Arme kraftlos erscheinen.
Bald habe ich es geschafft und gehe zu den Trögen. Zuerst tauche ich mein Gesicht in den Wassertrog und schüttele danach die Tropfen aus dem Gesicht. Dann schaue ich in den Futtertrog. Dort finde ich Früchte und grünes Gemüse, vermischt mit Getreideflocken.
Ich komme nur daran, indem ich mich dem Futter mit den Lippen nähere und es damit aus der Masse angele. Anschließend schlürfe ich nebenan etwas Wasser. Dabei kitzelt mich etwas an den Beinen.
Erstaunt an mir herunterschauend, erkenne ich einen Schweif aus schwarzen Haaren, meinem früheren Kopfhaar, wie ich meine.
Als ich ein knarzendes Geräusch höre, hebe ich meinen Kopf. Der Kami meiner Familie in Gestalt des Samurai betritt meine Box und redet genauso sanft mit mir, wie am Abend mit seinem Pferd. Er fixiert meine Hände auf meinem Rücken und legt mir ein Zaumzeug an mit einer dünnen Trense.
Anschließend zieht er mir hochschäftige Stiefel an, in denen man beinahe auf den Zehen gehen muss. Statt einer Sohle haben sie Hufe. Danach klickt er eine lange Leine in einen seitlichen Ring am Zaumzeug, die er locker in Schlaufen in der anderen Hand trägt. Nun zieht er mich, begleitet von beruhigenden Worten aus der Box und aus dem Stall.