Reiko -8-
Am Startpunkt angekommen, beschleunigte Hiko wieder ihre Schritte. Aus dem Trab, mit dem sie den Trainingsplatz gerade umrundet hat, wird nun ein rasender Galopp. So schnell habe ich Hiko noch nie laufen gesehen!
Ich sehe Sand aufspritzen, während sie sich mit jedem Schritt kraftvoller und wilder abstößt. Ihr Schweif weht hinter ihr her. Dann setzt sie zum Sprung an, wie sie es immer wieder geübt hat. Meine Stallgenossin fliegt beinahe über das Hindernis hinweg. Voll konzentriert berührt sie den Boden, federt ein wenig ab und nimmt den Schwung mit.
Sie wiehert laut und galoppiert in gleicher Geschwindigkeit weiter geradeaus auf das Gatter der Koppel zu. Noch einmal springt sie, diesmal muss sie ein Meter zwanzig überwinden. Auch diese Höhe schafft sie und läuft weiter. An der Ecke des Stalles gerät sie aus meinen Augen. Osawa-San, unsere Trainerin, lässt einen überraschten Schrei ertönen.

*

Ich, Osawa Saki, habe nach Hikos Sprung die anderen Uma-onna mit einem lauten Pfiff zu mir gerufen und anschließend in ihre Boxen gebracht. Anschließend gehe ich zu Shujin Watanabe-San, um ihm von dem Ereignis zu berichten.
?Konnichiwa -Guten Tag-,? sage ich, als ich sein Büro betrete und beuge mich mit geradem Oberkörper vor, wobei meine Hände an meinen Oberschenkeln anliegen.
Watanabe-San schaut auf und lächelt mich an.
?Saikin dou -Was geht?? antwortet er mir mit sanfter Stimme.
Ich berichte ihm, dass bei Hiko offensichtlich der Knoten geplatzt ist. Nach wochenlangen Trainingsproblemen hat sie es endlich geschafft höhere Hindernisse zu überspringen.
?Heute hat sie einen Doppelsprung hingelegt. Nach der Ermahnung, sich zu konzentrieren ? sie ist glimpflich gestürzt ? hat sie das Hindernis mit Bravour genommen, und gleich darauf das Gatter der Koppel. Seitdem ist sie verschwunden!?
Watanabe-San schaut mich gebannt an. Ich bin während meines Berichts vor Scham auf die Knie gesunken. Nun entsteht eine kurze Pause. Anschließend lacht er aus vollem Hals. Fassungslos schaue ich meinen Chef an. Ich spüre wie sich meine Wangen erwärmen.
Schallend lachend, verschüttet er ein wenig von seinem Tee, den er gerade in der Hand hält.
?Ihre jüngste Uma-onna läuft in der Gegend herum, und Sie lachen einfach nur,? stelle ich teils verwirrt, teils beschämt fest.
Watanabe-San stellt seine Teeschale ab, immer noch kichernd. Er erhebt sich und kommt hinter seinem Schreibtisch hervor.
?Sie ist einfach über das Gatter gesprungen?? fragt er nach.
Ich nicke ergeben.
?Ja, eigentlich hätte sie nur über den Stab springen sollen, den ich auf neunzig Zentimeter gelegt habe, aber dann ist sie weitergaloppiert und hat auch noch das Gatter genommen.?
?Hm..., ist das Gatter nicht ziemlich hoch?? fragt er, mehr im Selbstgespräch.
Ich nicke noch einmal.
?Ja, noch dreißig Zentimeter mehr??
?Interessant,? stellt er fest.
Watanabe-San verlässt den Raum und ich erhebe mich, um ihm zu folgen. Er verlässt nun das Haus, nachdem er sich seine Schuhe angezogen hat. Ich schlüpfe ebenfalls in meine Schuhe, die ich beim Betreten am Eingang zurückgelassen habe.
Der Shujin wählt nicht den Weg zu seinem Wagen, sondern geht um den Stall herum zu der Koppel.
?Wo will er hin?? frage ich mich in Gedanken. ?Will er sie nicht wieder einfangen??
Mit nun gänzlich verwirrter Miene folge ich im weiter. Als wir die Koppel erreichen, lacht der Shujin schon wieder. Er dreht sich zu mir um und sieht meinen Gesichtsausdruck.
?Lass sie sich erst einmal ein wenig verausgaben,? meint Watanabe-San. ?Außer dem Dorf der Pächter gibt es hier in der Umgebung ja nichts weiter, und mein Gefühl sagt mir, dass sie nicht sofort in die nächste Siedlung laufen wird.?
Der Shujin weist auf das Gatter.
?Über das Gatter ist sie einfach drüber gesprungen?? fragt er noch einmal. Der oberste Balken reicht sogar dem hochgewachsenen Mann bis zum Bauch.
?Hai -Ja-, Watanabe-San,? bestätige ich, nun etwas gefasster.
?Daran kann man erkennen, was unsere kleine Hiko so kann, wenn sie es nur will!? stellt der Shujin fest.
Nun wendet er sich vom Gatter ab und geht zurück zu dem Nebengebäude des Gestüts, gegenüber des Stalles.

*

Eine Viertelstunde nachdem ich mit der Trainerin meiner Uma-onna zum Trainingsgelände gegangen bin und mir das Gatter der Koppel angeschaut habe, bin ich bei meinem Wagen, hänge den kleinen Pferdeanhänger an die Kupplung, öffne anschließend die Fahrertür und schwinge mich auf den Sitz.
Ich aktiviere das Tablet im Armaturenbrett über dem Radio und wähle das GPS-Menü aus. Nachdem ich dort mein Passwort eingegeben habe, tippe ich eine längere Reihe von Zahlen und Buchstaben ein. Es ist der Code von Hikos Chip.
Das Tablet zeigt mir nun einen kleinen wachsenden Ladebalken. In der Zeit, in der das GPS sucht, starte ich schon einmal den Wagen und lasse ihn langsam über den Hof rollen.
Ein leises ?Piep? erklingt und das Tablet zeigt mir nun eine Karte der näheren Umgebung. Ein blauer Punkt zeigt mir meine Position. Etwas weiter entfernt wird ein roter Punkt angezeigt, der sich bewegt.
Ich lasse den Geländewagen langsam vom Hof rollen und folge der Landstraße nach links. Hiko hat ihre Zeit genutzt und eine ordentliche Distanz zwischen sich und dem Hof zustande gebracht. Offenbar hat sie aber nur einen Teil des Weges auf der Straße zurückgelegt, denn laut den Satelliten befindet sie sich gerade am Rand eines kleinen Waldes und damit abseits der befahrbaren Straßen.