Reiko -9-
?Gar nicht dumm!? denke ich mir.
Mit dem Geländewagen könnte ich mich ihr über Feldwege nähern, aber der Hänger macht solch eine Fahrt problematisch. In einem Wald hilft mir dann auch der beste Allrad-Antrieb nicht mehr.
Vorerst folge ich der vorgeschlagenen Route, die mich zum Dorf der Pächter meiner Ländereien führt. Hiko kann sich auf diese Weise weiter abreagieren und auspowern.
Hikos Flucht macht mich nachdenklich. Ich bin echt beeindruckt, dass sie es geschafft hat, mit nur wenig Übung über das Gatter der Koppel zu springen. In ihr dürfte ein großes Potential schlummern. Ihre Kraft und Wildheit stellen gerade im Military sicher eine echte Waffe dar. Das Problem ist halt eben nur, dieses Potential zu lenken. Ich hoffe, dass sie nicht in eine Depression stürzt, die ihr Feuer erlöschen lässt, wenn sie erkennt, dass sie ihrem Schicksal nicht ausweichen kann.
Inzwischen stehe ich auf dem Dorfplatz. Die Dämmerung setzt ein, macht langsam einer sternklaren Nacht Platz. Das Tablet zeigt, dass Hiko am Rand des kleinen Waldes entlanggeht. Als sie den Feld-/Waldweg erreicht und in der Ferne bestimmt die Lichter des Dorfes erkennt, wartet sie die Dunkelheit ab und nähert sich danach dem Dorf.
Am Ortsrand stoppt sie kurz, nimmt aber dann doch die Straße in die Ortsmitte. Sie geht ganz langsam und vorsichtig vor, um zu der Übersichtskarte auf dem Dorfplatz zu gelangen, damit sie sich orientieren kann.
Es geht schon gegen Mitternacht, als Hiko am Rand des Dorfplatzes im Schatten eines großen Baumes auftaucht. Sie wartet mehrere Minuten ab. Da der Platz ausgestorben erscheint, überquert sie bald mit vorsichtigen Schritten den offenen Platz und steuert auf die kleine Tafel zu. Immer wieder schaut sie sich nach allen Seiten um.
Sie beugt sich ein wenig vor, bestimmt um trotz der Dunkelheit einen genaueren Blick zu erhalten. Ein leises Schnauben von sich gebend, richtet sie sich nach einigen Minuten wieder auf. Sie dreht sich um, und in diesem Moment entdeckt sie mich, keine zehn Meter entfernt. Ich habe mich herangeschlichen.
Sie zuckt gewaltig zusammen, und muss ihr Gleichgewicht auf den Hufschuhen neu finden.
?Du bist die erste Uma-onna, die sich bei mir so unwohl gefühlt hat, dass sie tatsächlich weggelaufen ist,? stelle ich fest.
Ich habe ruhig und leise gesprochen, gehe nicht weiter auf sie zu.
?Ich bin es gewohnt, dass sich eine junge Uma-onna oft nicht mit ihrer Situation abfinden möchte,? fahre ich fort, ?aber ich denke, in deinem Fall ist es wohl etwas anderes."
Hiko zögert. Mit misstrauischem Gesichtsausdruck starrt sie durch die Dunkelheit zu mir herüber.
?Du darfst sprechen!? sage ich nun.
Hiko öffnet versuchsweise den Mund. Zögerlich beginnt sie:
?Sumimasen -Entschuldigung-, dass ich Ihnen so viel Unannehmlichkeiten gemacht habe, Watanabe-San. Ich habe so viel Freude am Rennen! Warum muss ich springen? Bin ich denn so gut darin??
Ich lächele und antworte:
?Du bist wirklich gut im Rennen! Du könntest in ein paar Jahren Ruri -Smaragd- ersetzen. Aber ich habe anderes mit dir vor: Du kennst Military? Dazu musst du drei Disziplinen beherrschen. Rennen, Springen und Dressur? Die erste Disziplin beherrschst du. Die zweite Disziplin wirst du auch bald beherrschen, wenn ich mir den Sprung über das Gatter noch einmal vergegenwärtige. Die dritte Disziplin wird in dein Training aufgenommen, wenn du ein preisverdächtiges Spring-Pony bist! Es gibt nur wenige Military-Ponys, Hiko. Du hast das Feuer in dir lodern, das man dafür braucht!?
Hiko überlegt. In ihrem Gesicht arbeitet es.
?Und ich darf auch weiterhin Rennen laufen?? fragt sie.
?Military ist mehr als das!? gebe ich ihr zu Bedenken. ?Du wirst Rennen, Springen und Dressur zeigen. Es ist ein Dreikampf! Ich sagte schon, dass es nur wenige Military-Ponys gibt. Du hast das Potential dazu, Hiko!?
Ich spüre, dass ich gewonnen habe. Ihr Ehrgeiz ist geweckt. Ihre Leistungen bei Rennen werden weiterhin gewürdigt, und man setzt noch mehr Erwartungen in sie.
Nach kurzer Überlegung antwortet sie:
?Ich bin bereit, ehrenwerter Shujin -Meister-. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Sumimasen -Entschuldigen- Sie mein Verhalten, kudasai -bitte-.?
Sie sinkt vor mir auf die Knie. Ich gehe nun auf sie zu und meine mit sanfter Stimme:
?Steh auf, Hiko. Wir sollten nachhause fahren. Dort wartet ein weiches Bett im Stroh auf dich!?
Mit meiner Hilfe erhebt sie sich und folgt mir zum Fahrzeug mit Anhänger. Dort angekommen, entriegele ich die Rampe und lasse sie leise auf den Boden des Dorfplatzes hinab. Hiko geht in den Anhänger und setzt sich in eine der beiden 80x80 Zentimeter großen Boxen. Ich fasse sie mit meiner rechten Hand an der Schulter und übe einen leichten Druck auf ihr Schlüsselbein aus.
Anschließend verschließe ich ihre Box und verlasse den Anhänger. Nun noch die Rampe hochheben und verriegeln, danach gehe ich nach vorne, setze mich hinter das Steuer und fahre zum Gestüt zurück. Der Druck auf ihr Schlüsselbein signalisiert ihrem Gehirn, dass sie sich wieder nur noch mittels Schnauben und Wiehern verständlich machen soll.

*

Ich, Reiko, habe in der Nacht nach Hikos Flucht nicht einschlafen können. Darum bin ich gleich aus dem Halbschlaf erwacht, als jemand den Stall betreten hat. Das hölzerne Stalltor hat leise geknarzt und als dann das gedimmte Deckenlicht aufgeflammt ist, höre ich zum Einen die sanften Worte Watanabe-Sans und zum Anderen schwere Hufschläge auf dem Boden des Mittelganges.
Sofort stehe ich auf und bin am Boxengatter, als der Shujin und Hiko vorbeischleichen. Leise schnaubend begrüße ich die Beiden. Hiko kommt zu mir ans Gatter und lehnt sich an mich. Wange berührt Wange. Ich denke, wir sind beide glücklich, uns wiederzusehen.
Watanabe-San lässt uns eine Weile gewähren, dann öffnet er Hikos Box und fordert sie freundlich auf, schlafen zu gehen. Kurz darauf liegen wir wieder auf unseren Strohlagern und der Shujin verlässt den Stall, nachdem er das Licht gelöscht und uns ?Oyasumi nasai -Gute Nacht-? gewünscht hat.