Reiko -10-
Beim Einschlafen fällt mir auf, dass Hiko ganz freiwillig neben Watanabe-San hergegangen ist. Er hat sie nicht angeleint gehabt! Mit einem glücklichen entspannten Lächeln im Gesicht schlafe ich ein.
Am darauffolgenden Morgen dürfen wir lange ausschlafen. Meine Neugier treibt mich allerdings bald aus dem Strohlager. Ich schaue durch das Außentor meiner Box und bemerke Umbauarbeiten auf der Koppel. Schnell habe ich gefrühstückt und halte mich den Rest des Vormittages am Außentor auf.
Die automatische Führanlage wird versetzt und das Gelände für das Springtraining auf der Koppel wird vergrößert. In diesem Gelände wird ein Oval ohne Hindernisse angelegt. Da hinein kommt eine Acht mit unterschiedlich hohen und unterschiedlich weiten Hindernissen. Hiko soll also gefordert und gefördert werden. In der Mitte der Koppel wird außerdem ein Rechteck mittels sechs Stangen abgesteckt, die man im Boden verankert.
Am Nachmittag führt man uns auf die Koppel und lässt uns alles aus der Nähe begutachten. Der Shujin Watanabe-San und die Trainerin Osawa-San erklären uns die Umbauten:
?Außen herum bleibt die Trabbahn bestehen. Dort könnt ihr nach dem Training herunterkommen. In Trainingspausen könnt ihr euch weiterhin auf der Rasenfläche sonnen. Für das Springen gibt es jetzt ein anspruchsvolleres Trainingsgelände, das auch von Reiko einmal genutzt werden soll. Eine kleinere Version des Dressurgeländes schließt sich daneben an. Wenn Reiko ihre ersten Preise gewonnen hat, wird auch Hiko dieses Gelände nutzen und Reiko dann das Gelände des Springtrainings. Ich strebe für euch beide die Anmeldung zu Vielseitigkeitsprüfungen an. Ihr habt das Potential dazu!?

*

Ein lauter Pfiff hallt über die Koppel und reißt mich aus meinen Gedanken. Während die Trainerin sich mit Hiko beschäftigt, hat der Shujin einen seiner Schüler abgestellt, um mit mir die Dressur zu üben. Beim ersten Mal dieses Trainings bin ich freudig überrascht gewesen, dass Riku-kun mein Trainer sein soll.
Ich hebe den Kopf und erkenne Riku-kun, der schon auf die Koppel gekommen ist. Rasch erhebe ich mich von der Grasfläche und laufe auf ihn zu. Seit er damit angefangen hatte, mich für die Dressur zu trainieren, sind bestimmt drei oder vier Monate vergangen. Riku-kun hält eine Trense in der Hand, wie ich beim Näherkommen sehen kann. Das lässt mich vor Vorfreude unruhig werden, denn der Shujin hat gesagt, dass es bei Wettkämpfen vorgeschrieben ist. Die Uma-onna -Pferdfrauen- müssen dann Trensen tragen. Heute steht also ein Training unter Wettkampfbedingungen an.
Als ich ihn erreiche, lächelt er mich an und streichelt mir kurz über den Kopf.
?Na komm, Kleine. Der Shujin hat dich für deine erste Dressur angemeldet. Wir sollten die Zeit nutzen und noch ein wenig üben, meinst du nicht auch??
Ich öffne den Mund, wiehere begeistert und strahle ihn an. Heute dürfte das Training bestimmt noch härter ausfallen als sonst, aber ich freue sich darauf. Jetzt liegt es an mir, die Chance auch zu nutzen. Mit geübten Griffen befestigt er die dünne Trense zwischen den Ringen an meinem Zaumzeug. Dann betreten wir das Trainingsrechteck für die Dressur. Ich gehe in die Ausgangsposition und Riku-kun stellt sich daneben.
Konzentriert setze ich einen Huf vor den Anderen und wiederhole den Bewegungsablauf immer wieder.
?Nicht so langsam! Achte auf dein Tempo!? ruft mir Riku-kun zu.
Ich schnaube leise, um ihm zu zeigen, dass ich verstanden habe.
?Lass die Bewegungen besser ineinander übergehen. Versuch zwischen den Schritten nicht so lange Pausen zu machen und die Hufe nicht so lange stehen zu lassen,? rät er mir.
Ich versuche seinen Rat anzunehmen und meine Schritte schneller aufeinander folgen zu lassen. Immer wieder setze ich den rechten Huf schräg nach vorne, stelle den linken Huf davor und wiederhole die Schrittfolge.
Eine ganze Weile üben wir nun die Traversale, eine spezielle Figur der Dressur. Hierbei geht es darum, durch die besondere Schrittfolge in einer diagonalen Bahn zu laufen, den Körper aber gerade nach vorne gerichtet zu lassen.
?Konzentrier dich! Achte auf die Schrittlänge, sonst verfehlst du die Markierung!? ruft Riku-kun. Überrascht drehe ich den Kopf zur Seite und überprüfe meine Position. In einem Wettkampf darf ich das natürlich nicht tun, sonst ziehen die Richter mir dafür wichtige Punkte ab.
Tatsächlich bin ich nicht weit genug zur Seite gelaufen. Genervt schnaubend achte ich darauf, mit den nächsten Schritten weniger nach vorne und dafür mehr zur Seite zu schreiten. So gelingt es mir, die Markierung nur um rund zwei Meter zu verfehlen. Zerknirscht werfe ich Riku-kun einen entschuldigenden Blick zu, ehe ich dann diagonal in die andere Richtung schreite, um die zweite Markierung anzusteuern.
?Hai -Ja-, es geht doch!? lobt Riku-kun, als ich die zweite Markierung beinahe perfekt treffe. ?Jetzt versuchen wir es noch einmal und konzentrier dich, damit du auch die erste Markierung triffst!?
Ich schnaube zustimmend und folge Riku-kun zurück zum Startpunkt. Auf sein Kommando hin setze ich mich erneut in Bewegung.
Dieses Mal schaffe ich es, beide Markierungen ordentlich zu treffen. Auch habe ich nicht nach meiner Position schauen müssen, sondern mich auf mein Gefühl verlassen können.
?Sehr gut, du kannst es doch,? lobt Riku-kun und streichelt kurz meine Wange.

*

Im Herbst hat der Stall seinen ganz eigenen Geruch, der an sonnigen Tagen besonders gut wahrzunehmen ist. Es ist ein schwerer Duft, der vom Stroh, dem Holz und natürlich auch der anwesenden Uma-onna herrührt. Ich mag ihn inzwischen sehr. Es ist der Geruch meines Zuhauses und bedeutet für mich gleichzeitig Ruhe und Geborgenheit.
Heute jedoch fehlt mir die innere Ruhe, als ich am Abend meine Box betrete. Appetitlos mustere ich mein Futter im Trog.
?Nanu? Hast du gar keinen Hunger? Sonst schlingst du doch nach dem Training immer so,? wundert sich Riku-kun, als er nach einer Weile noch einmal nach mir schaut.
Ich schnaube nur leise. Stumm seufzend schiebe ich ein paar Pellets mit der Nase im Trog umher. Es ist ja nicht so, dass ich keinen Hunger hätte. Aber meine Nervosität sorgt dafür, dass ich nichts hinunter bekomme. Am nächsten Tag werde ich das erste Mal auf dem Dressurfeld stehen und meine Leistung entscheidet darüber, ob ich vor den Richtern bestehe oder nicht.
Er legt mir eine Hand auf die Schulter und sagt mit leiser sanfter Stimme:
?Iß wenigstens ein bisschen, damit du keine Magenschmerzen vor Hunger bekommst!?