Geräusche der Nacht -19
Enie schaut mich zweifelnd an. Ich meine aber, einen Funken 'Erkennen' darin zu finden. Also versuche ich es erneut:

"Schau mal, die Wissenschaftler entdecken immer noch Neues. Wenn es von unabhängigen Stellen bestätigt wird, wird der Wissenschaft wieder ein neues Puzzlestück hinzugefügt. Vor Jahrtausenden hatten die Menschen diese Möglichkeit nicht. Was blieb ihnen anderes üblich, als zu akzeptieren was sie entdeckten? Deshalb bevölkerten im klassischen Altertum so viele Tier-Mensch-Wesen den damaligen Götterhimmel."

"Aber du bist doch keine Superwoman und Hannes kein Superman!"

"Nein, Liebes, wir sind Menschen, wie alle anderen auch. Wir hatten irgendwann in der Zeit nur das Pech, einem Tier-Mensch-Wesen zu begegnen, der oder die den Kampf mit den tierischen Instinkten in sich verloren hat. Wir Gestaltwandler haben gelernt, die tierischen Instinkte zu beherrschen. Von uns geht also keine Gefahr aus. Das Problem sind nur die Menschen, bei denen das innere Tier die Oberhand gewonnen hat und das Handeln bestimmt."

In diesem Moment klingelt der Lieferdienst. Ich gehe an die Tür und nehme das Essen an, bezahle und serviere es Enie auf dem Couchtisch. Sie isst gedankenverloren und lässt doch die Hälfte stehen. Ich esse den Rest. Plötzlich fragt Enie:

"Wie kam es eigentlich dazu, dass du 'Gestaltwandler' wurdest?"

"Hm," mache ich. Vierhundert Jahre alte Bilder kommen in meinem Inneren an die Oberfläche. "Ich habe mich in einen Jungbauern verliebt, dessen Vater einen Einödbauernhof bewirtschaftete. Seine Mutter ist früh verstorben. Ich war vielleicht zwanzig Jahre alt und habe den Männern nach der Hochzeit den Haushalt geführt. Nach ein paar Jahren starb auch der Vater. Das war sogar kurz vor dem Winter, der für mich alles veränderte."

"Oh," macht Enie. Ich erzähle weiter:

"Wir hatten vielleicht einen halben Meter Schnee. Zum Krämer ins zehn Kilometer entfernte Dorf zu gehen... Daran war gar nicht zu denken. Wir mussten mit den Vorräten auskommen. Eines Tages ist Clas in der Frühe mit seiner Armbrust aufgebrochen, um ein Wildbret zu schießen, das ich dann zubereitet hätte. Die Sonne stand noch nicht weit über dem Horizont, als ich ein Poltern an der Stalltür hörte. Ich bin sofort, so wie ich war, vor die Tür und habe gesehen, dass die Stalltür offenstand. Die Ziege war weg und ihre Spur verlief Richtung Wald. Wir brauchen ihre Milch! Also bin ich hinter ihr her durch den Schnee gestapft, was mit meinem bodenlangen Kleid gar nicht so einfach war. Bei den ersten Bäumen angekommen, sehe ich die Beißmarken in der Rinde und stapfe weiter. Die Ziege muss zurück!"

"Wann ist das gewesen? Das muss echt unangenehm gewesen sein!"

"Das war im Jahre des Herrn 1609 im Februar. Oh, ja, das war mehr als unangenehm! Plötzlich erhalte ich einen Schlag versetzt, der mich umwirft. Ich schreie auf und rufe nach Clas. Dann berührt mich in der Eiseskälte der heiße Atem eines riesigen Wolfes. Er schlägt seine Zähne in meine Schulter. Ich denke, mein Tod steht unmittelbar bevor und werde ohnmächtig. Als ich erwache, befinde ich mich an einem anderen Ort. Ich denke, ich bin tot und befinde mich im Paradies. Ich wende meinen Kopf und sehe einen jungen Mann neben mir auf der Wiese sitzen. Der Schnee ist weg, die Temperatur ist höher, Schmetterlinge umtanzen mich. Neben mir sitzt ein Mann in etwa meinem Alter. Ist das ein Engel? Ich setze mich auf und frage ihn, wo ich mich hier befinde. Er berichtet mir, dass er zufällig in der Nähe war und mich vor einem 'Rufus' gerettet hätte. Wir befänden uns in der Nähe des 'Dair'. Das ist die keltische Welteiche. Er hilft mir auf und führt mich in eine Höhle unter der riesigen Eiche. Dort sind drei Männer, Wächter-Druiden, die mich in den nächsten drei Wochen lehrten, meine tierischen Instinkte zu beherrschen. Dann kam der erste Vollmond und mit ihm die erste Verwandlung. Sie geschah unfreiwillig, aber sie bedeutete auch das Ende des Behütetseins. Nun musste ich mein Leben selbst in die Hand nehmen und in die Welt hinauslaufen."