Geräusche der Nacht -20
Enie bleibt eine ganze Weile stumm. Anfangs hat sie mich noch ungläubig angestarrt. Dann hat sie ihren Blick gesenkt und vor sich hin geschaut. Auf einmal sieht sie auf, schaut mir ins Gesicht und fragt:
"Wie lebt es sich so, als vierhundert Jahre alte Frau?"
"Hm, zum einen das Gesundheitliche. Ich kann genauso einen Schnupfen bekommen, wie jeder andere Mensch auch. Verletze ich mich, heilt das in kürzester Zeit. Die Zellen meines Körpers erneuern sich ständig, so dass ich scheinbar nicht altere."
"Ist das nicht wunderbar? Viele Frauen würden dich beneiden!"
"Sie haben nie erlebt, wie es ist nicht zu altern, während um einen herum jeder andere Mensch alt wird und wegstirbt. So ein Leben ist nicht wunderbar! Um mich vor zuviel Trauer zu schützen, muss ich mir alle dutzend Jahre ein neues Leben aufbauen. Emotionale Bindungen einzugehen sind so kaum möglich."
"Oh, so habe ich das noch nicht gesehen. Kannst du denn niemals sterben?"
"Doch, wenn ich ertrinke oder verbrenne, oder eine Bombe explodiert in meiner Nähe. Das überstehe ich natürlich nicht."
Enie nickt zu meinem Statement. Dann fragt sie:
"Wer war eigentlich der junge Mann, der dich vor dem Werwolf gerettet hat?"
"Sorry, Enie, das darf ich dir nicht sagen. Wir haben auch unsere Regeln, die wir nicht übertreten dürfen. Ich bin mir aber sicher, dass du es irgendwann erfahren wirst."
"Dieser Rufus, der dich gebissen hat, ist der Anführer der Leute, die mich entführt haben. Stimmt's?"
Ich nicke.
"Dieser Rufus sagte, ich sei eine Geisel und gleichzeitig ein Lockvogel, um einem Anderen eine Falle zu stellen, den er abgrundtief hasst."
Ich nicke noch einmal und bestätige:
"Ja, das stimmt. Aber wir haben dich ja aus der Falle befreit. Sei beruhigt. Rufus wird dir niemals mehr etwas antun. Die Wächter-Druiden haben ihn und sein Rudel tausende Kilometer weit versetzt. Gleichzeitig haben sie einen jungen Mann hierhergeschickt, einen Wächter-Lehrling, der neben der Theorie nun auch die Praxis kennenlernen soll."
Enie schaut mich mit großen Augen an. In diesem Moment klingelt es an der Tür. Ich erhebe mich von der Couch und öffne. Draußen steht Hannes. Er hat Feierabend und will nach seiner Freundin schauen. Ist es wirklich schon so spät?
Enie ist ebenfalls aufgestanden und kommt angelaufen. Ich mache einen Schritt zur Seite. Schon liegen sich die Beiden in den Armen. Ich entschuldige mich und verabschiede mich von den Beiden. Danach gehe ich hinüber in meine Wohnung und schaue, ob mein Kühlschrank eine Flasche Sekt hergibt. Zwei Gläser noch und Minuten später klingele ich vor einer anderen Tür im Uni-Center.
*
In den vergangenen Jahrhunderten habe ich stets mehr oder weniger einsam gelebt. Ich bin immer in Bewegung geblieben, vor Angst, dass jemand entdeckt, wer ich wirklich bin. In Zeiten, in denen die Kirche noch große Macht über die Menschen gehabt hat, hätte ein enttäuschter Ehemann ausgereicht, mich als Hexe oder Teufelin zu verurteilen. Leider kann ich als Gestaltwandlerin keine Kinder gebären. Eine Anklage bei der Inquisition ist einfacher als dass er die Scheidung einreicht.
Ein zweiter Grund, mich der Inquisition zu melden, wäre mein langsames Altern. Während ein hypothetischer Ehemann altert, wie alle Menschen, bin ich in den 432 Jahren meines Lebens - biologisch gesehen - vielleicht 7 Jahre älter geworden. Biologisch bin ich heute also mit einer Anfang Dreißigjährigen vergleichbar. Äußerlich wie eine 80jährige aussehen, werde ich also rechnerisch in etwa 2.800 Jahren. Eines natürlichen Todes sterben… Bis dahin vergehen sicher noch etwa 3000 Jahre. Kein Wunder, dass Gestaltwandler in der altägyptischen Kultur in den Stand von Göttern erhoben worden sind.
hrpeter am 27. Dezember 23
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