Geräusche der Nacht -57
Mein Herz rutscht mir in die Hose. Impulsiv greife ich den Bettrost und ziehe ihn hochkant zwischen mich und das Tier. Dabei fällt das Teil gegen mich. Wieder werde ich bewusstlos.
Als ich danach wieder wach werde, scheint fahles Tageslicht durch den Spalt in die Mauerhöhlung hinein. Ich liege halbwegs unter dem umgekippten Bettrost. Vor mir hat sich das große Tier abgelegt und beäugt mich. Ich drehe mich ächzend und versuche, mich in sitzende Position aufzurichten.
Wenn es ein Wolf ist, dann ist es ein Einzelgänger, der sein Rudel verlassen hat, um mit einer Fähe ein neues Rudel zu gründen, überlege ich. So habe ich es in Papas Aufzeichnungen zu den Caniden gelesen.
Ich schaue den Wolf misstrauisch an. Innerlich sterbe ich fast vor Angst. Nur allmählich beruhige ich mich. Nach einiger Zeit öffne ich meine Tasche und krame eines der Schnitzel hervor. Nach dem Auspacken ziehe ich es zwischen den Brotscheiben hervor und schiebe stattdessen einen Pfannkuchen dazwischen. Das Schnitzel lege ich auf den Rand des Bettrostes.
Nun beginne ich zu frühstücken. Der Wolf hat sich halb aufgerichtet und angelt sich das Schnitzel. Er schnüffelt kurz daran und verschlingt es mit einem Haps. Nun schaut er mich aufmerksam an. Bedauernd sage ich:
"Leider kann ich dir jetzt nichts mehr geben, Wolfi. Ich muss haushalten."
Ich rutsche vorsichtig näher und streiche ihm über die Stirn. Er lässt es zu und ich werde mutiger. Als Nächstes kraule ich ihn hinter den Ohren und unter dem Unterkiefer. Plötzlich schießt seine Zunge aus dem Maul und fährt feucht über meine Hand. Im ersten Reflex ziehe ich meine Hand zurück.
Aber ich erinnere mich, dass in Papas Aufzeichnungen steht, die Caniden (Hunde und Wölfe) nutzen ihre Zunge wie wir Menschen unsere Hände. So wie ich ihn gestreichelt habe, hat er seine Zunge über meine Hand gestrichen. Wir haben beide unsere Zuneigung für den Anderen kundgetan.
Nun beginne ich aber darüber nachzudenken, was unser Beider Zukunft sein wird. Ich muss dringend wieder nachhause fahren. Dorthin kann mich Wolfi bestimmt nicht begleiten. Wenn ich bedenke, mit einem wilden Wolf in den Bus einzusteigen und dann Zug fahren... Andererseits mag ich es nicht, ihn in der Kulturlandschaft allein zu lassen. Früher oder später erschießt ihn ein Jäger, weil ein Bauer um seine Herde fürchtet.
Noch einmal krame ich in meiner Tasche. Ja, ich habe mein Handy eingesteckt, obwohl ich es vorher ausgeschaltet habe. Ich schalte es ein. Ein paar WhatsApp-Nachrichten sind neu darauf. Den Kopf schüttelnd und denkend ‚Jetzt nicht!‘ schalte ich das Handy stumm. Dann rufe ich Google Maps auf und lasse mir eine Wanderkarte zu meiner Heimatstadt anzeigen. Google Maps meint, dass ich 11 Stunden zu Fuß unterwegs sein werde.
Ich krieche aus der Höhle und reiße vom zweiten Schnitzel ein Stück ab. Damit locke ich Wolfi heraus zu mir. Danach gehe ich los und achte darauf, dass Wolfi an meiner Seite bleibt. Will er sich entfernen, gebe ich ein weiteres Stückchen Schnitzel ab. Wir erreichen bald einen Feldweg, auf dem wir bis in die Abenddämmerung nebeneinander hergehen.
Plötzlich biegt Wolfi seitlich ins Feld ab und hetzt los. Deshalb kann ich Wolfi kein Halsband und eine Leine anlegen. Wölfe brauchen Bewegungsfreiheit, steht in Papas Aufzeichnungen. Ich mache mich schon mit dem Gedanken vertraut, dass Wolfi nicht zu mir zurückkommt, als ich Bewegung neben mir wahrnehme. Wolfi hat ein Kaninchen gejagt und bringt es zu mir. Ich habe aber keine Ahnung, wie man es ausweidet und aufteilt.
hrpeter am 13. April 24
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