Geräusche der Nacht -65
Zur Mittagszeit kommen die Grüppchen zurück. Einige bringen Wildbret, das Vera zubereitet. Ich helfe ihr dabei. Auch das Auto kommt zurück. Kurz darauf schleppen die beiden Männer, die mit dem Fahrzeug unterwegs gewesen sind, einen Menschen herein. Sie legen ihn auf dem Boden inmitten des Raumes ab. Arkadij, der Anführer der Gruppe, wird zu einem großen Wolf. Bestürzt erlebe ich mit, was nun passiert. Er stürzt sich auf den Toten und zerfetzt dessen Kleidung. Seine Zähne graben sich tief in den Bauch des Toten. Geschockt wende ich mich ab. Einer der Männer meint:

"Hm, no rischtisch frisch!"

Das ist zuviel für mich. Ich renne zur Tür, will sie öffnen, aber ich breche hindurch. Das Holz splittert und schon stehe ich an der frischen Luft. Gegenüber dem Feldweg steht ein Baum. Im Nu stehe ich davor, lehne mich dagegen und erbreche mich heftig. Wo befinde ich mich bloß hier? Vor meinem inneren Auge tanzt das grausige Bild, wie der Wolf die Därme des Toten frisst.

"Wie gehtet?" fragt jemand an meiner Seite.

Ich wende mühevoll den Kopf. Durch einen Tränenschleier kann ich Vera schemenhaft erkennen.

"Ich habe Angst," flüstere ich. "Muss ich auch...?"

Sie legt mir ihre Hand auf die Schulter und wischt mit ihrer anderen Hand meine Haare aus dem Gesicht.

"Dao mutt nett," flüstert sie mir zu. "Nur wann dao hia nett blaibe willscht, mutt dao."

"Ich bin kein Menschenfresser," schluchze ich.

"Schsch!" macht Vera und legt mir sanft ihren Zeigefinger auf meine Lippen. "Dao kannschd di entscheide. Et gibt annere, die nett tete. Aba dat wird hart! De Welf in di falangt no Blut. De Annere haale det Raubtier ständisch am Ziegel."

"Wo finde ich die Anderen?" frage ich. Hoffnung keimt in mir auf.

"Sei finne di, wann dao dat willsch!" erklärt mir Vera.

Danach geht sie zur Hütte zurück. Ich starre auf mein Erbrochenes. Mein Entschluss steht fest. Hier kann ich nicht bleiben! Ich muss irgendwie flüchten. Auch ich gehe in die Hütte zurück, wo zwei Männer schon die Tür reparieren. Mich wundert es, dass ich vorhin so einfach hindurch gebrochen bin. Ich helfe Vera weiterhin bei ihrer Arbeit. Zur Nacht legen sich alle auf dem Boden aneinander gekuschelt schlafen.

Das Erlebnis heute Mittag lässt mich nicht einschlafen. Ich warte also bis alle schlafen. Dann erhebe ich mich leise und öffne die provisorisch hergerichtete Tür. Draußen schleiche ich mich davon. Die Zeit des Vollmondes ist gerade erst vorbei. Die Nacht ist hell und voller Gerüche und Geräusche.

Ich trage meine Wanderkleidung. Die ledernen Wanderschuhe haben ihr Gewicht. Also schlüpfe ich heraus. Im Hintergrund erkenne ich ein Wäldchen und renne los. Noch nie habe ich mich so kräftig gefühlt. Die schnelle Bewegung macht mir keine Mühe. Ein Ziel habe ich nicht. Nur weg, weit weg von diesen Horrorgestalten.

Nach unbestimmter Zeit mache ich zwischen Bäumen zum ersten Mal eine Pause. Ich habe das unklare Gefühl, dass man mich beobachtet. Ob Arkadij mich verfolgt? Ich nehme einen tiefen Atemzug. Seinen herben Duft spüre ich nicht. Aber es liegt ein anderer Duft in der Luft. Er erinnert mich an einen Menschen, nicht an irgendwelche Waldtiere. Einen feinen blumigen Duft wittere ich, der mich an eine Frau denken lässt.