Geräusche der Nacht -79
Damit ich nicht ewig auf ein Leckerlie als Motivation angewiesen bin, soll ich 'Kira' von Zeit zu Zeit knuddeln, rät er mir beim anschließenden Cafébesuch. Dabei fragt er mich:
"Hat dir das Tierheim gesagt, ob 'Kira' bei ihrem früheren Besitzer ein Kommandotraining bekommen hat? Also ob 'Kira' mehr kennt, als das 'BEI FUSS'."
Ich schüttele verneinend den Kopf.
"Also bekommt sie von mir das volle Programm, wenn du einverstanden bist, Chris," meint er dazu.
Ich lächele ihn fröhlich an und antworte:
"Ja, gerne!"
Inzwischen habe auch ich ihm meinen Kurznamen genannt.
In der Folgezeit besucht mich Valle zuhause, um in meiner Gegenwart mit 'Kira' die Kommandos zu üben und mich in das Training so einzubinden, dass meine Hündin auch von mir die Kommandos annimmt. Danach gehen wir zu Dritt aus und beenden den Spaziergang wie üblich in einem Café.
Ich habe Valle einmal nach seinen Hobbys gefragt. Da ist er auf das Jogging gekommen. Das ist mir zu anstrengend. Die Spaziergänge mit 'Kira' reichen mir völlig. Nebenbei backt er sehr gerne, gesteht er mir und berichtet, dass er vor seinem Weggang aus Usbekistan dort in einer 'Doitsche Bekerej' gearbeitet hat. Dann hat er mich an meinem Geburtstag mit einer selbst hergestellten Torte überrascht.
Inzwischen mag ich Valle schon sehr. Leider scheint er einer engeren Beziehung gegenüber nicht so aufgeschlossen zu sein. Trotzdem hat er sich bereiterklärt, den Zweitschlüssel zu seiner Wohnung an mein Schlüsselbrett zu hängen. Ich habe ihm dafür im Gegenzug meinen Zweitschlüssel gegeben. So können wir uns gegenseitig aushelfen, falls einer seinen Schlüssel verliert.
In diese Zeit fallen verschiedene Wolfssichtungen, das heißt, einen Wolf bekommen die Leute nie zu Gesicht. Aber der Wildtierbeauftragte hat anhand der Spuren einen Wolf identifiziert. Meine Redaktion überträgt mir die Berichterstattung.
Nun bin ich viel für Interviews unterwegs. Damit sich 'Kira' nicht vernachlässigt fühlt, nehme ich sie mit zu den Menschen und erhebe ein Meinungsbild in der Bevölkerung. Wölfe sind geschützte Wildtiere. Aber in den Leuten sitzt eine Urangst vor einer 'mordlüsternen Bestie'.
Dem gegenüber steht, dass der Wolf bisher noch kein Vieh oder anderes Weidetier gerissen hat. Er hat sich an Kleintieren des Waldes gehalten. Die größte Beute ist einmal ein Rehkitz gewesen.
*
Eines Nachts klingelt es Sturm an meiner Türe. Wer kann das sein und was will derjenige? Ich stehe auf und werfe mir einen Morgenmantel über die Schultern. Barfuß gehe ich zur Tür. Draußen liegt Valle. Ich bin total erschrocken. Er blutet aus mehreren Wunden. 'Kira' beugt sich fiepend zu ihm und leckt ihm über Kopf und Schultern. Ich hocke mich hin und hebe seinen Kopf an.
"Kannst du aufstehen?" frage ich besorgt.
Er brummt etwas und ich versuche ihn hochzuziehen. Er stützt sich schwer auf mich, während ich versuche, ihn ins Schlafzimmer und dort in mein Bett zu befördern. Dabei flüstert er mit heiserer Stimme:
"Keinen Arzt, bitte! Keinen Krankenwagen! Hast du etwas gegen Schmerzen?"
Ich schaue im Verbandsschränkchen im Badezimmer und bringe ihm ein Glas Wasser mit einer Paracetamol-Tablette. Danach gehe ich noch einmal ins Badezimmer und komme mit einem angefeuchteten Waschlappen zu Valle zurück. Ich denke, ich muss seine Wunden säubern, damit er keine Blutvergiftung bekommt. Vorsichtig tupfe ich die Wunden sauber. Jedesmal zieht er zischend die Luft ein. Nach einer Weile ist er eingeschlafen und ich decke ein Betttuch über ihn. Morgen muss er mir erklären, warum er mitten in der Nacht nackt und blutend bei mir sturmklingelt.
hrpeter am 18. Juni 24
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