Geräusche der Nacht -103
Mit dem Jungen in meinen Armen gehe ich zwischen die Bäume am Fuß der Anhöhe. Ich weiß, dass in der Nähe ein klarer Bach vorbeifließt. Dort wasche ich die Wunden des Jungen aus, lege blutstillende Kräuter auf und verbinde die Wunden. Dabei streiche ich ihm über den Kopf und frage ihn:
"Wie heißt du, mein Kleiner?"
"Helmut," antwortet er einsilbig und schaut mir zu, wie ich ihn verarzte.
Nach einer Weile fragt er:
"Wo ist Mama und Bille?"
"Du musst jetzt ganz stark sein, kleiner Mann!" sage ich mit sanfter Stimme. "Deine Mama und deine Schwester sind jetzt beim lieben Gott!"
Der Kleine ist zu diesem Zeitpunkt gerade vier oder fünf Jahre alt. Nach der Behandlung habe ich mich mit ihm zurück in seine Heimatstadt versetzt und in den Ruinen versteckt. Immer, wenn ich uns Lebensmittel 'besorgen' gehe, beruhige ich Helmut:
"Bleib' bitte hier! Rühr' dich nicht und gib' keinen Mucks von dir, bis ich zurück bin. Ich hole uns etwas zu essen."
Auch ich habe ihm meinen Namen genannt und er nennt mich seitdem 'Tante Grete'. Das höre ich gerne. Einmal komme ich zurück und erschnüffele in der Höhlung unter den Trümmern fremden herben Duft. Zwei Landstreicher haben sich zu meinem Helmut gesetzt und unterhalten sich, was sie mit dem Jungen anstellen sollen. Ich ziehe mich nackt aus, verstecke meine Unterkleidung und die Uniform unter einem Stein, danach lasse ich die Wölfin heraus.
Als ich mich nun den Männern zeige und mit entblößten Eckzähnen drohend knurre, nehmen sie Hals über Kopf Reißaus. Ich folge ihnen ein paar Schritte und ziehe mir meine nun schmutzige Kleidung wieder an. Dann gehe ich zu Helmut und hole ihn aus der Höhlung hervor.
"Hallo, mein Lieber," erkläre ich ihm. "Wir müssen hier weg, bevor die bösen Männer wiederkommen!"
Der Junge zittert am ganzen Körper. Er schaut mich mit flatternden Augenlidern an und fragt mich:
"Hast du gerade den großen Hund gesehen?"
Ich streiche ihm zärtlich mit der Hand über Stirn und Frisur und behaupte:
"Der Hund beschützt uns, mein Lieber. Wenn du ihn noch einmal siehst, mit dieser Fellfärbung, dann brauchst du keine Angst haben! Verstehst du?"
Er schaut zu mir auf. Ich nehme ihn auf den Arm und er drückt sich an mich.
"Du darfst aber niemand von ihm erzählen, Helmut! Sonst bleibt er weg..."
Ich schaue ihm in die Augen und er nickt mit ernstem Gesicht. Nun lächele ich, drücke ihn an mich und gebe ihm einen sanften Kuss auf die Wange.
Auf dem weiteren Weg durch die Trümmerlandschaft, begegnen wir den Männern tatsächlich noch einmal. Sie haben einen Schutzmann dabei, der ein Infanteriegewehr geschultert hat. Dieser fragt mich:
"Guten Tag, gnädiges Fräulein. Diese Männer berichten, dass sich ein Wolf hier in der Gegend herumtreiben soll. Können Sie das bestätigen?"
"Leider nein, Herr Wachtmeister. Ich bin unterwegs, den Jungen in einem Heim abzugeben, und auf dem Weg ist mir weder ein Wolf, noch ein großer herrenloser Hund begegnet."
"Achten Sie bitte auf sich, gnädiges Fräulein! Und wenn sie einen sehen sollten, entfernen sie sich langsam rückwärtsgehend, bis er außer Sicht ist."
hrpeter am 29. August 24
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