Die Journalistin -01
Zum wiederholten Mal versuche ich den polizeilichen Unfallbericht in all seiner Kürze und Nüchternheit in einen Zeitungsartikel umzuwandeln. Heute Morgen hat der Ausdruck auf meinem Schreibtisch gelegen. Darin heißt es lapidar:
„Ein Fahrzeug nimmt auf der Lyoner Straße, zwischen Goldsteinstraße und Straßburger Straße, an einer Straßenbaustelle einem einbiegenden Fahrzeug die Vorfahrt.“
Nachdem ich den Laptop an meinem Arbeitsplatz hochgefahren habe, versuche ich eine erste Version:
„Gestern Nacht kam es zu einem Unfall in der Lyoner Straße als zwei Fahrzeuge im Bereich einer Straßenbaustelle mit hoher Geschwindigkeit kollidierten. Während die Fahrer nur leichte Verletzungen davon trugen, mussten die Fahrzeuge weggeräumt werden.“
Ich seufze und lösche den letzten Satz. Danach mache ich einen zweiten Versuch:
„Nachdem die Feuerwehr die Fahrzeuge aufgeschnitten hatte, konnten die Sanitäter die Fahrer aus den Wracks befreien. Die Unfallbeteiligten wurden daraufhin in die Klinik gebracht.“
Ich lese den Satz noch einmal durch, zucke leicht mit den Schultern und hoffe, dass der Artikel nun reißerisch genug klingt.
Vier Jahre Studium der Journalistik liegen hinter mir und ich schreibe einen Unfallbericht! Wenn es die Ausnahme wäre, hätte ich mich daran vermutlich nicht gestört. Jedoch ist dieser Bericht das Spannendste, was ich gemacht habe, seit ich vor sechs Wochen in die Redaktion der Frankfurter Rundschau eingetreten bin. Dabei bin ich zu Beginn so froh darüber gewesen, diesen Job bekommen zu haben.
Meine Noten sind zwar nicht herausragend, aber meiner Meinung nach im Großen und Ganzen ganz ordentlich gewesen. Ich habe mich anfangs von einem Praktikum zum nächsten gehangelt, ohne dass ich dabei einer Festanstellung nähergekommen bin. Schließlich hat mir eine Freundin den Tipp gegeben, mich einmal bei der Frankfurter Rundschau zu bewerben.
Ohne wirklich daran geglaubt zu haben, bin ich tatsächlich zu einem Gespräch eingeladen worden. Vor gut sechs Wochen habe ich dann meinen ganz persönlichen Traumjob bekommen. Kurzerhand bin ich nach Frankfurt gezogen und kann mich nun Junior Redakteurin der Frankfurter Rundschau nennen.
Ich lege den Polizeibericht zur Seite und streiche mir meine schwarzen Haare aus dem Gesicht. Mich zurücklehnend, überfliege ich noch einmal meinen Text. Er ist nicht herausragend, aber was soll ich auch aus einem Unfallbericht schon Großartiges machen?
In den Vorlesungen hat man uns viel darüber erklärt, wie man sachlich berichtet und worauf man bei Interviews achten muss. Die Professoren an der Uni sind wohl nicht davon ausgegangen, dass ihre Studenten später Verkehrsnachrichten abtippen würden. Nach deren Aussagen wäre es praktisch nur eine Frage der Zeit, bis jeder einzelne Student einen der begehrten Journalistenpreise gewinnen würde.
hrpeter am 27. Juli 23
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