Sonntag, 26. März 2023
Wolfskind -12
Zwei Sommer später hält so ein Untier genau dort am Wegesrand, wo wir 'Wolfskind' bei der Geburt ihres Welpen beigestanden haben. Es ist Jagdzeit, denn der neue Tag dämmert gerade. Eine Menschin verlässt das Untier und hebt einen Welpen heraus. Sie hält ihren Welpen am Arm, der schon auf seinen Hinterbeinen gehen kann, wie die erwachsenen Menschen. Eines meiner Rudelmitglieder hat sie kommen gesehen und mich informiert.

Ich laufe zu dem Ort am Wegesrand und mein Rudel folgt mir. Wir sind inzwischen auf neun Köpfe angewachsen. Als ich 'Wolfskind' erschnüffele, hat sie sich am Wegesrand niedergelassen und ihr Welpe sitzt auf ihren Hinterläufen.

Ich nähere mich den Beiden wie in Zeitlupe und nehme einen Zweig auf, gegen den ich im hohen Gras stoße. Den Zweig lege ich vor den Beiden ab und lasse mich neben ihnen nieder. Mein Rudel ist inzwischen ebenfalls herangekommen. Meine Gefährtin nähert sich vorsichtig 'Wolfskinds' Welpen und stößt es mit der Nase an.

Der Welpe verströmt widerstreitende Gefühle. Ich rieche Furcht und Neugier. Es klammert sich an seine Mutter und schaut uns aus den Augenwinkeln an. 'Wolfskind' küsst ihren Welpen zwischen die Augen und streckt ihre Hand nach mir aus. Sie beginnt, mich zwischen den Ohren zu streicheln. Ich lege meinen Kopf auf meinen Vorderpfoten ab und genieße die Nähe und Zuwendung.

Nach wenigen Augenblicken überwiegt die Neugier des Welpen und es wendet sich mir zu. 'Wolfskind' sagt etwas und zeigt auf meine Gefährtin. Nun wendet sich der Welpe meiner Gefährtin zu. Es streckt seine kleinen Vorderläufe ihr entgegen und krault sie zwischen den Ohren. Da meine Gefährtin nun auch ihren Kopf auf ihre Vorderläufe ablegt, löst sich der Welpe von seiner Mutter und nähert sich meiner Gefährtin. Es küsst meine Gefährtin auf die Stirn, geht auf alle Viere und legt sich eng an sie.

'Wolfskind' hat einen Hohlraum neben sich stehen, den sie jetzt öffnet. Sie nimmt Keulen heraus, die wunderbar nach Sitka-Rehen riechen. Jedes Rudelmitglied erhält von ihr solch ein nahrhaftes Geschenk. Wir fressen an Ort und Stelle. Nachdem wir ihr Geschenk verspeist haben, erhebt sich 'Wolfskind' wieder und ruft ihren Welpen zu sich. Sie klettern wieder in das Untier und kurz darauf wendet es und läuft den Weg zurück. Wir entfernen uns ebenfalls langsam vom Weg. Sicher werde ich 'Wolfskind' noch öfter treffen. Wir kennen nun ihren und den Geruch ihres Welpen.

*

Als meine kleine Mary etwa zweieinhalb Jahre alt ist, mache ich in aller Frühe zehn Rehkeulen fertig. Ich habe sie spätabends aus der Gefriertruhe genommen und auftauen lassen. Clyde muss noch im Dunkeln zur Arbeit. Wir haben also gerade kurz nach drei Uhr, als ich mit ihm am Kaffeetisch sitze und ihn verabschiede. Was ich heute vorhabe, weiß er nicht. Ich habe ihm nichts erzählt, damit er sich keine Sorgen macht.

Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken und sich von mir verabschiedet hat, gieße ich mir noch eine Tasse voll und brate mir ein Rührei, dass ich mit Weißbrot und Ahornsirup zum Kaffee esse. Anschließend mache ich Mary ihr Fläschchen und wecke unser Mädchen. Nachdem auch sie satt ist, gehen wir zum Auto. Ich setze sie auf den Kindersitz, schnalle sie an und setze mich hinter das Steuer.

Ich verlasse den Ort auf der Country-Road und halte auf den kleinen Hügel am Straßenrand zu, Marys Geburtsort. Dort angekommen stoppe ich den Wagen am Straßenrand, schalte vorsorglich die Warnblinkanlage ein und hebe Mary aus dem Sitz. Sie hält sich in meiner Nähe, während ich die Türen schließe. Danach nehme ich ihr Händchen in meine Hand und zusammen wandern wir in ein paar Schritten den flachen Hügel hinauf. In der anderen Hand habe ich die gefüllte Kühlbox mit meinem Willkommensgeschenk an das Rudel hier.

Auf dem höchsten Punkt des Hügels lasse ich mich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, stelle die Box neben mich und nehme Mary auf meinen Schoß. Der Morgen dämmert gerade. Wir erleben einen wundervollen farbenprächtigen Sonnenaufgang. Ich bin voller Vorfreude.

Nach kurzer Zeit spüre ich die Annäherung von Tieren. Den Kopf wendend, erkenne ich ein großes Rudel in einigem Abstand, aus dem sich ein Tier gelöst hat und langsam mit gesenktem Kopf näherkommt. Sofort wende ich mich wieder ab. Der Wolf soll sich nicht provoziert fühlen.