Wolfskind -09
Ich schalte den Motor aus und öffne die Tür. Zu Fuß brauche ich noch zwei Stunden zu meinem Arzt. In der Hoffnung, dass ich das schaffe, quäle ich mich mit dem großen Bauch aus dem Auto. Ich schalte die Warnblinkanlage ein und schließe die Fahrertür, dann gehe ich los. Der Wind ist ziemlich stark und der Schnee, den er mit sich führt, kriecht mir in alle Ritzen.
Mein ungeborenes Mädchen ist unruhig. Beruhigend streiche ich mir über den Bauch. Dies ist unser erstes Kind. Clyde hat mir versprochen, bei der Geburt dabei zu sein. Wenn das Wetter nicht bald besser wird, wird daraus wohl nichts. Ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel und empfehle unser Mädchen in Gottes Hände. Er möge mir Schutzengel schicken.
Plötzlich fühle ich einen stechenden Schmerz. Nur das nicht! Nicht schon jetzt, meine Kleine! Nicht hier!
Ich schaue mich um, und sehe in der Nähe in dem grauen Dämmerlicht eine leichte Anhöhe am Straßenrand. Der Wind hat hier den Schnee fast vollständig fortgeweht. Meine Schritte führen mich dorthin. Es fällt mir zunehmend schwerer zu gehen. Jetzt hätte ich meine Skistöcke gut gebrauchen können.
Endlich habe ich die kleine Anhöhe erreicht und setze mich straßenseitig auf den flachen Hang. Kaum habe ich mich niedergelassen und eine gewisse Erleichterung macht sich in mir breit, als mir schwarz vor Augen wird und ich bewusstlos werde.
Wieviel Zeit vergangen ist weiß ich nicht zu sagen, als ich erwache. Es ist noch genauso grau. Eine weitere Wehe hat mich aus der Bewusstlosigkeit geholt. Ich finde mich auf der Seite liegend, eng umringt von graubraunen Pelzen, die mich vor dem kalten Wind schützen. Ein Grautier hat sich so an meinen Kopf gelegt, dass er gestützt wird. Als ich realisiere, in welcher Situation ich mich befinde, bekomme ich einen Riesenschreck und denke spontan:
'Oh, hail Mary help!'
Der Wolf, der meinen Kopf stützt, wendet seinen Kopf mir zu, lässt seine Zunge hervorschnellen und zieht sie mir über das Gesicht. Dabei wischt er feinen Schnee fort. Wieder spüre ich eine Wehe. Ich drehe mich und setze mich halb auf, auf meine Ellbogen gestützt. Meine Beine stelle ich auseinander und ziehe die Knie an. Dann beginne ich zu hecheln und versuche die Wölfe um mich herum gedanklich auszublenden, mich stattdessen auf mein Mädchen zu konzentrieren, das sich diesen ungewöhnlichen Ort für seine Geburt ausgesucht hat.
Um mich abzulenken, lasse ich meine Gedanken wandern. Meine Großmutter hat mir als kleinem Mädchen erzählt, dass unsere Familie zu den First Nations gehört. Unser Volk nennt sich Tlingit und unsere Familie gehört zu den Laxgibuu -Wolfs-Clan-. Sie ist noch die Schamanin des Clans gewesen, bevor die Whites unser Land durch Straßen erschlossen und sie sich hier angesiedelt haben.
Unser Totemtier ist der Wolf gewesen. Es hat einige Begegnungen mit den Raubtieren gegeben, die sie in unseren Augen als nicht gefährlich erscheinen lassen. Jedenfalls, wenn man sie selbst auch respektvoll behandelt und mit Achtung vor der Kreatur gegenübertritt.
hrpeter am 17. März 23
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren