Mittwoch, 10. Mai 2023
Wilderness Trail -06
Ich wickele mir den Schlafsack um einen Arm, um damit mein Gesicht schützen zu können. Dabei vermeide ich hastige Bewegungen, um das Raubtier neben mir nicht zu erschrecken. Auch spreche ich mit sanften Worten auf das Muttertier ein. Die Welpen sehen neugierig zu.

Meine unterschwellige Angst vor dem zahnbewehrten Fang ist aber unnötig, denn die Wölfin bleibt die ganze Zeit ruhig. Ich ergreife die beiden Hälften der Falle und biege sie langsam auseinander, während ich den mit dem Schlafsack umwickelten Arm vor meinen Kopf halte. Schließlich gelingt es mir, ihre Pfote aus der Falle zu befreien.

Sie knurrt nur kurz, als ihre Pfote frei ist. Ansonsten zeigt sie keinerlei Aggression. Anscheinend ist das nur eine Reaktion auf den Schmerz gewesen. Danach blinzelt sie mich an, erhebt sich und setzt sich humpelnd in Bewegung. Die Welpen folgen ihr. In einiger Entfernung zu mir bleiben sie stehen. Alle fünf schauen zu mir zurück. Ich bin ebenfalls aufgestanden und schaue ihnen hinterher. In Gedanken verabschiede ich mich gerade von den Tieren.

Mich auf den Rückweg vorbereitend packe ich meine Taschen. Da sehe ich, dass die Wölfin sich mir humpelnd nähert. Die Welpen folgen ihr und nähern sich mir ebenfalls.

Überrascht richte ich mich auf und schaue der Wölfin entgegen. Nur noch zwei Meter von mir entfernt, reckt sie ihren Kopf zum Himmel und heult laut. Danach schaut sie mich an. Ihre Jungen haben mich erreicht und stellen sich auf ihre Hinterläufe. Sie lehnen sich an meine Beine an und beginnen zu hüpfen. Ich halte ihnen meine Hände entgegen und lasse mich ablecken, oder streiche ihnen sanft über die Köpfe. Will die Wölfin sich nur von mir verabschieden oder will sie, dass ich ihr folge? Will sie mir etwas zeigen? Sie dreht sich wieder um, entfernt sich eine kleine Strecke und schaut wieder zurück.

Da ich neugierig bin, was mich erwartet, folge ich der Familie langsam mit etwas Abstand. Seit ich mich in Bewegung gesetzt habe, haben die Welpen zu ihrer Mutter aufgeschlossen und halten sich bei ihr, nicht ohne immer wieder einen Blick zurück zu machen, ob ich ihnen weiter folge.

Es geht querfeldein. Ohne meine GPS-basierte App würde ich bestimmt nie mehr zurückfinden, denke ich. Dann treten wir aus dem Wald heraus. Die Wölfin führt mich einen Abhang hinab, der mit vereinzelten Büschen und Gras bewachsen ist. Am Fuß des Abhangs gelangen wir zu einer Ebene, in der ein wunderschöner See liegt.

Beeindruckt von diesem wunderschönen Stück Natur lasse ich meinen Blick schweifen. Plötzlich kommen immer mehr Wölfe heran. In dem Moment bereue ich meine Entscheidung, der Wölfin und ihren Welpen gefolgt zu sein. Ich zähle mindestens acht erwachsene Wölfe, dazu noch einige Welpen und Halbwüchsige.

Die Wölfin und ihre Jungen werden freudig begrüßt, durch kurzes Gebalge, Gezüngel und schließlich durch gemeinschaftliches Heulen, in das das Muttertier und die Welpen in ihrer Begleitung einfallen. Das Bild, das sich mir bietet, ist überaus friedlich. Ich unterdrücke trotzdem den Impuls, mich mitten zwischen die Raubtiere zu begeben.