Dienstag, 2. August 2022
Die Unterwelt des Achad Dùir Meave 04
Nach Schritt und Trab hat Phyllis mir den Galopp beigebracht, immer im Kreis um sie herum. Die Hufschuhe machen mir bald keine großen Probleme mehr.

Phyllis hat sich im Training als streng, aber fair erwiesen. Sie nutzt die Gerte nur, wenn es auch einen Grund dafür gibt und schlägt nicht sehr hart zu. In den letzten Tagen hat sie Fotos von mir gemacht und mir dazu erklärt, dass damit meine Papiere endlich vollständig sind.

*

Heute hat mich Phyllis nach der morgendlichen Fütterung in der Box gelassen. Gelangweilt stehe ich am Boxen-Tor und werfe immer wieder einen Blick durch die Gitterstäbe. Später wandere ich etwas in meiner Box herum und erleichtere mich über der Kunststoff-Wanne. Es dauert fast bis zum Mittag, ehe Phyllis wieder auftaucht. Sie öffnet das Boxen-Tor und erklärt mir:

"Deine Grundausbildung ist abgeschlossen, Reign. Dein neuer Owner ist hier und möchte dich zu seinem Gestüt bringen. Dort wird er dich im Springen ausbilden."

Aufgeregt trete ich näher an meine Trainerin heran. Sie befestigt mit geübten Handgriffen mein Kopfgeschirr und drückt mir die Trense zwischen die Kiefer. Anschließend klinkt sie eine kurze Führleine ins Kopfgeschirr.
Analog zu meiner Rolle als Sportpony gibt es hier also Leute, die Gestüte besitzen, in denen Ponys trainiert werden, um an Wettbewerben teilzunehmen. Wer mag der Mann wohl sein? Eine Mischung aus widerstreitenden Gefühlen steigt in mir auf. Wird er mich als Sportlerin betrachten, oder als Objekt der Begierde nutzen?

Phyllis führt mich aus der Box zurück in den Flur. Diesen gehen wir bis zu den Aufzügen und fahren ins Foyer hinunter. Dort sitzt Mrs. Miller hinter einem Tresen, um Besucher zu empfangen und weiterzuvermitteln. Als wir das Foyer betreten, kommt ein Mann in den 40ern auf uns zu. Er trägt kurze rote Haare und macht einen kräftigen, aber recht sympathischen Eindruck auf mich.

"So, Mister Wagner, hier ist Ihre neue Stute!" ruft Phyllis ihm mit freundlicher Stimme entgegen und lächelt den Mann an.

Ich werde zu dem Mann geführt und bleibe keine zwei Meter von ihm entfernt stehen. Neugierig beobachte ich meinen neuen Owner.

"Sie sieht tatsächlich aus wie auf dem Foto," antwortet der Mann und betrachtet mich prüfend. "Sehr muskulös und gut im Training, scheint mir."

Phyllis übergibt ihm die SD-Card. Er schiebt sie sogleich in sein Tablet und ruft meine persönlichen Daten auf den Bildschirm.

"Pony ebony," liest er. "Pet-ID: MT90193, Name: Reign, African-European-Mix, Geschlecht: Stute, Größe: 173 cm, Gewicht: 60 kg, interessiert, hat schon mehrere Wettbewerbe gewonnen.
Genauso, wie ich sie vom Internet-Auftritt kenne. Sehr schön!"

"Wir bräuchten dann noch eine Unterschrift von Ihnen," bemerkt Phyllis augenzwinkernd.

Mrs. Miller schiebt ein Dokument und einen Stift über ihren Tresen.

"Aber natürlich," bestätigt Mister Wagner, überfliegt den Text und unterschreibt ihn anschließend.

"Dann wünschen wir Ihnen noch viel Spaß und viel Erfolg mit Reign," verabschiedet sich Phyllis und reicht dem Mann die Hand, nachdem Mrs. Miller das Dokument in einer Schublade abgelegt hat.

Meine Trainerin übergibt dem Mann die Führleine. Er wendet sich zur Eingangstür und winkt noch einmal zurück, als die Türflügel zur Seite fahren. Stumm folge ich dem Mann, der mich aus dem Gebäude herausführt. In der Haltespur unter der Balustrade wartet ein Pferdewagen, zu dem mich der Mann nun hinführt. Zum ersten Mal sehe ich solch einen Wagen, der von human Ponys gezogen wird.

Interessiert schaue ich genauer hin und finde zwei weibliche Ponys vor den Wagen gespannt. Auch die Ponys schauen interessiert, wen der Chef da anbringt. Beide sind gut trainiert und muskulös.

Der Mann führt mich zum Heck des Wagens. Dort liegt eine Rampe auf der Straße, über die er mich nun ins Innere führt. Er lässt mich vorgehen, denn der Gang neben den Pferdeboxen ist sehr schmal. Die vorderste Box steht offen. Dort schiebt er mich hinein und schließt die Tür hinter mir. Die Box ist sehr eng, vielleicht 60 cm breit und 90 cm tief. Sie besitzt einen Sitz, so dass ich die Fahrt stehend oder sitzend mitmachen kann.

So neugierig, wie ich bin, bleibe ich stehen und wende mich nach vorne. Durch eine durchsichtige Kunststofffolie kann ich nach vorne blicken. Der Gestütsbesitzer setzt sich auf die Sitzbank. Durch mein 'Fenster' kann ich seine Beine sehen. Dann schlenkert er die Zügel und die Stuten ziehen an. Wir verlassen die Haltespur und fädeln uns in den spärlichen Verkehr ein. Bald darauf lässt Mister Wagner die Stuten vor dem Wagen in Trab wechseln. Wir fahren an einigen Wohnblocks vorbei, bis er wieder langsam machen lässt.

An einem niedrigeren Gebäude lässt er halten. Er steigt ab und öffnet ein Tor, in das die Stuten den Wagen hineinziehen. Dann schirrt er die Stuten einzeln ab und bringt sie weg. Es dauert daher etwas, bis er die Heckklappe öffnet und sie als Rampe auf den Boden legt. Er öffnet meine Box und meint:

"Okay, dann werde ich dir jetzt deinen neuen Stall zeigen."

Ich lasse mich durch einige offene Türen und Gänge in einen Stall mit mehreren Boxen führen. Hier riecht es nach einer Mischung aus frischer Luft, Futter und Schweiß. Der Geruch ist zwar sehr gegenwärtig, aber ich empfinde ihn nicht als unangenehm.

"Dies hier ist deine Box," erklärt Mister Wagner und öffnet eine der Boxen-Tore auf der linken Seite. Ich gehe einige Schritte hinein. Die Box ist vergleichbar mit der in der Verwaltung. Hier gibt es das gleiche Interieur. Mister Wagner erklärt:

"Mein Gestüt trainiert Sportpferde für Wettbewerbe, Reign. Du sollst Weltmeisterin im Hürdenlauf sein. Wenn du dich hier gut einfügst, erhältst du nicht nur neuerworbene Auszeichnungen, sondern auch deine Älteren hier an die Wand gepinnt!
Ich möchte dir nun deine Mitbewohnerinnen vorstellen: In der Box schräg gegenüber wohnt 'Camille'. Sie ist eine preisgekrönte Langläuferin. Direkt dir gegenüber wohnt 'Sofie'. Sie hat selbst noch keine Preise erzielt, aber sie begleitet 'Camille' zu jedem Wettkampf. Sie ist wichtig für deren ausgeglichenen Seelenleben und befähigt auf diese Weise 'Camille' in der Spitzengruppe zu bestehen. Die Beiden sind gute Freundinnen."

'Oh,' denke ich mir. 'Der Mann kümmert sich wirklich vorbildlich!'

Nun lässt uns Mr. Wagner erst einmal alleine. Mir fällt auf, dass sich in der Decke des Stalles viereckige durchsichtige Flächen befinden, durch die man die Tageslichtlampen an der Höhlendecke sehen kann. In welcher Ebene sich der Stall befindet, kann ich nicht sagen, da die Fahrtrichtungen der Straßen übereinander gelegt wurden, sicher um weniger Platz zu verbrauchen. Aber sehr hoch kann er nicht liegen.

"Schau dich ruhig etwas um, ich bin gleich wieder da," erklärt Mister Wagner und verschließt das Boxen-Tor.

Nach einer Weile kommt er zurück. Ich habe mich inzwischen an den Pellets und dem Wasser gütlich getan. Er greift wieder nach der Führleine und führt mich auf einen Sandplatz vor dem Stall. Ein Stück weit führt er mich an einem Zaun entlang, dann betreten wir eine Koppel. Der Boden ist kreisrund festgetreten und von der Mitte aus ragt ein Gestell über den Kreis.