Wolfskind -14
Ich nicke und gebe ihm einen Kuss. Man soll einem Kind keine Entwicklung verbauen, meine ich. Ob Mary früher oder später die Lust an dem Instrument verliert, soll sie selbst entscheiden dürfen. Wir erstehen also solch ein Schüler-Instrument und schenken es ihr zu Nikolaus, nachdem wir es professionell stimmen gelassen haben.
Zuerst kommen tatsächlich nur klägliche Töne aus dem Instrument. Zu Weihnachten haben wir auf meine Vermittlung ein 20jähriges Mädel von der Musikschule engagiert. Sie zeigt Mary verschiedene Griffe und wie man den Geigenbogen optimal hält. Nun kommen schon bessere Töne aus dem Instrument. Mary lernt durch nachahmen. Sie mag am liebsten moderne Musikstücke. Zwischendurch geht sie immer mal wieder vor die Tür, hinaus in die Prärie und fährt mit ihrem Rad in den nahen Wald, um Naturgeräusche zu hören und nachzuahmen.
Gegen Ende der Primary School empfiehlt uns ihre Lehrerin, sie auf der Musikschule in der nahen Stadt anzumelden. Ich bin dafür. Leider ist Clyde dagegen.
Eines Tages bekomme ich starke Bauchschmerzen. Mary ist in der Schule und Clyde ist arbeiten. Ich lege mich ins Bett und versuche, eine Position zu finden, bei der die Schmerzen erträglich sind. Da mir das nicht gelingt, rufe ich die 999 an und erkläre dem Dispatcher welches Problem ich habe. Er verspricht mir, dass in wenigen Minuten Hilfe kommt. Also quäle ich mich wieder aus dem Bett und öffne die Haustür. Dann wird mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir komme, hat sich ein fremder Mann über mich gebeugt und Wiederbelebungs-Maßnahmen angewandt. Nun legen sie mich auf eine Trage. Ein anderer Mann fragt nach meiner Krankenversicherungskarte. Ich erkläre ihm mit schwacher Stimme, wo ich meine ID-Card und die Health-Card aufbewahre, dann werde ich in den Krankenwagen geschoben und ein Zugang für das Schmerzmittel wird gelegt.
"Schreiben Sie bitte eine Notiz für meine Tochter und meinen Mann, damit sie Bescheid wissen, wenn sie nachhause kommen," flüstere ich noch.
Der zweite Mann verspricht es mir. Kurz darauf geht die Fahrt los. Unterwegs habe ich das Gefühl, über mir zu schweben und auf mich herabsehen zu können. Der Mann, der neben mir sitzen geblieben ist, beginnt erneut mit Wiederbelebungs-Maßnahmen.
Ich möchte noch nicht sterben! Ich möchte meine Kleine aufwachsen sehen! Obwohl diese Wünsche so stark in mir werden, entferne ich mich weiter von meinem Körper. Jetzt schwebe ich schon über dem Krankenwagen. Ein Stoßgebet formt sich in meinen Gedanken. Ich bitte Gott um einen Aufschub irgendeiner Art. Gleichzeitig beginne ich uralte Gebete zu rezitieren, die ich von meiner geliebten Großmutter oft gehört habe, der Schamanin der Laxgibuu, des Wolfs-Clans der Tlingit.
Mein Geist lässt nun den Krankenwagen unter mir davonfahren. Er schwebt zu dem Wäldchen, in dem sich das Wolfsrudel aufhalten muss, das mir sehr verbunden ist. Irgendwie habe ich das Gefühl, von einem der Wölfe angezogen zu werden. Vom Alpharüden, etwa? Es dauert nicht lange, da sie ich sie aneinander gekuschelt in einer Höhle unter einem Baumriesen liegen. Sie haben wohl das Wurzelwerk des Baumes freigeräumt und sich einen Unterschlupf geschaffen.
hrpeter am 01. April 23
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