Geräusche der Nacht -52
Der Schriftsteller nimmt das Fleisch in die Hand und hält es dem Wolf hin. Er macht einen Schritt auf ihn zu und redet, wohl auch, um sich selbst zu beruhigen:

"Hi, guten Abend. Schau mal, was ich hier für dich habe! Ist das nicht ein 'lecker Fresschen'? Du siehst, ich bin ganz harmlos."

Der Wolf stellt den Kopf tief, ohne die Rehkeule aus den Augen zu lassen. Er kommt wie in Zeitlupe näher. Plötzlich ruckt der Kopf hoch und seine Zähne schließen sich um das Fleisch und den Knochen. Herr Beltz lässt los und macht sogleich einen Schritt rückwärts. Der Wolf hat sich abgelegt und knackt den Knochen, dass es knirscht. Die Rehkeule liegt dabei auf seinen Vorderläufen.

"Faszinierend!" bemerkt der Schriftsteller mit deutlichem Zittern in der Stimme.

Nachdem der Wolf die Gabe verschlungen hat, kommt er wieder hoch und schaut Herrn Beltz aufmerksam an. Der Mann schaut zu Liam und mir. Wir nicken ihm nur aufmunternd zu und ich frage den Autor:

"Wenn das ihr Hund wäre, der sie nach der Mahlzeit aufmerksam anschaut, was würden sie tun?"

"Weiter füttern?" fragt Herr Beltz zurück.

"Wenn Sie auf die Gesundheit ihres Tieres achten, stoppen Sie das Füttern bestimmt. Sie wollen doch sicher keine Wurst auf vier Beinen mit Fettleber und anderen Krankheiten haben. Was machen Sie als Hundehalter stattdessen?"

"Ich würde beschwichtigend auf den Hund einreden, mit sanfter Stimme und den Hund streicheln."

Sophia ist aufgestanden und kommt näher. Sie fordert den Autor nun auf:
"Na also! Dann geben Sie sich einen Ruck und tun, was sie tun würden."

Der Schriftsteller schaut zweifelnd von Liam zu mir. Wir nicken ihm lächelnd zu und er redet bedauernd in Richtung des Wolfes:

"Mehr habe ich leider nicht."

Dabei macht er einen weiteren Schritt auf das Tier zu und krault ihm den Nacken. Der Wolf schaut zu Herrn Beltz auf, drückt seinen Kopf dann an dessen Oberschenkel und reibt sich an ihm. Der Autor wird mutiger und streicht sanft über die Lefzen des Tieres. Plötzlich öffnet der Wolf die Schnauze und seine Zunge berührt die Hand des Schriftstellers. Dieser zuckt im ersten Moment erschrocken zurück.

"Ich denke, der Wolf hat Sie in sein Herz geschlossen," bemerkt Liam. "Nun können Sie Sophia gerne selbst sagen, welche Situationen sie sehen möchten. Ich rate Ihnen aber, die Fütterungsszene ebenfalls auf ihr Diktiergerät zu sprechen. Die können Sie sicher ebenfalls irgendwo einbauen, mit anderen Personen."

"Sie haben Recht," stimmt er zu, nimmt sein Handy wieder hoch und spricht sein Erlebnis auf eine neue Tondatei. Danach schaut er Sophia an, die ruhig neben dem Wolf wartet und fragt:

"Vorhin hatte ich ihre Freunde gefragt, ob der Wolf ihnen um die Beine streichen kann und sie ihn dabei streicheln, Frau Müller."

Sophia zieht eine Augenbraue hoch und antwortet:
"Diese Szene haben Sie gerade an sich selbst erfahren. Wölfe sind intelligente Lebewesen. Sie müssen ihnen schon stets etwas Neues bieten, wollen Sie ihre Aufmerksamkeit behalten. Und es sind unabhängige Tiere. Sie würden Sie bei Langeweile verlassen und einem Kaninchen hinterherjagen. Das ist dann schon viel interessanter! Bedenken Sie, ein Wolf gehorcht nicht auf irgendwelche Kommandos. Auch bei noch so großem Vertrauen zu Ihnen nicht! Sie müssen ihn behandeln, wie einen Freund."