Die Unterwelt des Achad Dùir Meave 06
Nun trainiert Mister Wagner mich darin, wie man am schnellsten, höchsten und weitesten springt. Obwohl ich ganz ordentliche Fortschritte mache, ahne ich, dass ich noch einiges vor mir habe. Die Ständer bieten noch Platz für eine dritte Stange in 90 Zentimeter Höhe. Aus meinem früheren Leben weiß ich, dass im Pferdesport auch zwei Ständerpaare hintereinander angeordnet werden, die ich dann beide überspringen muss, um im Wettkampf Punkte zu sammeln.

Aber erst einmal befinden sich nur zwei Stangen an einem Ständerpaar. Ich muss mich auf mein gegenwärtiges Ziel konzentrieren. Inzwischen habe ich das hintere Ende des Trainingsplatzes erreicht, laufe eine Kurve und fasse das Hindernis erneut ins Auge.

Ich erhöhe das Tempo meiner Schritte und gehe von einem schnellen Trab ins Galoppieren über. Je näher ich dem Hindernis komme, desto größer scheinen die Stangen zu werden. Ich achte darauf, einigermaßen mittig darauf zuzulaufen und mache mich wieder zum Sprung bereit. Wie vorhin stemme ich das rechte Bein in den Boden und lasse das linke nach vorne und oben schwingen. Ich scheine regelrecht durch die Luft zu schweben und sause über die Stangen des Hindernisses hinweg.

"Rücken gerade! Kopf hoch!" schallen die Worte Mister Wagners über den Trainingsplatz.

Ich gebe mir Mühe, mich nicht zu weit nach vorne zu beugen. Den Blick nicht auf den Boden zu richten, fällt mir leichter, je mehr Vertrauen ich in mich bekomme. Als Hürdenläuferin weiß ich davon.

Mein Huf strecke ich gerade vor dem Körper aus, während ich mein rechtes Bein leicht angewinkelt in Richtung meines Hinterns ziehe. Genau im richtigen Moment drücke ich das Schwungbein nach unten und bewege mein rechtes Knie nach vorne. Der linke Huf berührt den Boden, ich federe mich ein wenig ab, nehme den Schwung mit und bringe den zweiten Huf nach unten.

*

Der Stall hat seinen ganz eigenen Geruch. Es ist ein schwerer Duft, der die verschiedenen Noten der hölzernen Wände und Decke und natürlich auch der anwesenden Pferde vereint. Inzwischen löst er so etwas wie Heimatgefühle in mir aus und ich mag das sehr. Gleichzeitig bedeutet der Geruch Ruhe und Geborgenheit für mich.

Heute ist etwas anders. Mir fehlt die innere Ruhe, als ich am Abend in meiner Box stehe. Ich mustere mein Futter appetitlos.

"Nanu? Hast du gar keinen Hunger? Sonst schlingst du doch nach dem Training immer so," wundert sich Mister Wagner, als er das Futter an alle Stuten verteilt hat und beim Weggehen an meiner Box vorbeikommt.

Stumm seufzend schiebe ich ein paar Pellets mit der Nase im Futtertrog umher. Es ist ja wirklich nicht so, dass ich keinen Hunger habe, aber durch meine Nervosität bekomme ich heute einfach nichts herunter. Morgen soll ich meinen ersten Wettkampf im Springen absolvieren. Mister Wagner hat mich angemeldet.

Morgen werde ich mich im Stadion mit anderen Stuten messen müssen. Meine Leistung entscheidet darüber, ob das Training ein Erfolg wird, oder nicht.

Mister Wagner tritt näher und legt mir seine Hand auf meine Schulter.

"Friss wenigstens ein bisschen was, damit du vor Hunger keine Magenschmerzen bekommst," rät er mir mit sanfter Stimme.

Ich nicke ganz leicht und drücke meine Wange an seinen Handrücken. Mit der Zunge angele ich mir ein Pellet und kaue langsam darauf herum. Mister Wagner hat ja Recht. Auch ohne Magenschmerzen werde ich wegen meiner Nervosität unruhige Stunden in der Nacht vor mir haben und nicht besonders viel Erholung finden.

Er lehnt sich an die Wand neben der Rüstkammer gegenüber meiner Box und leistet mir Gesellschaft beim Abendessen. Das beruhigt mich ein wenig und ich angele ein zweites Pellet mit meinen Lippen. Ich freue mich, dass er mich mit meiner Angst nicht alleine lässt. Die Angst zu scheitern und zu versagen, ist schon immer mein ständiger Begleiter gewesen. Umso größer ist danach der Stolz auf meine Leistung und das grenzenlose Glücksgefühl.
Ich angele mir das letzte Pellet aus dem Trog, hebe den Kopf und drehe mich zu Mister Wagner um. Anscheinend ist er mit der Menge zufrieden, die ich gefressen habe.

"Na, siehst du, das war doch ganz ordentlich," meint er und klopft mir sachte auf die Schulter.

Ich gehe zu meiner Schlafstatt und mache es mir dort bequem, während er den Stall verlässt. Mister Wagner hat natürlich Recht. Die Pellets haben mir gutgetan. Mein Magen scheint sich beruhigt zu haben, auch wenn meine innere Unruhe nur geringfügig abgenommen hat.

Nachdem er den Stall verlassen hat, stelle ich mich noch einmal breitbeinig über die Kunststoff-Wanne. Danach lege ich mich auf meine Schlafstatt und lasse mich auf meine Matratze zurücksinken. Während des Trainings ist aus der Sympathie zu ihm Zuneigung geworden. Er lässt mich nicht hängen! Ich atme die Stallluft ein und schließe die Augen. Morgen werde ich mein Bestes geben und ihm zeigen, dass all die Mühen nicht umsonst gewesen sind.

Morgen werde ich mir auch eine Turnierschleife erarbeiten, von denen 'Camille' schon einige an der Rückwand ihrer Box hängen hat. Mister Wagner hat mir versprochen, dass er mir weitere Turnierschleifen daneben hängt, entsprechend der errungenen Plätze aus meinen Wettbewerben als Hürdenläuferin in aller Welt. Bald falle ich in einen unruhigen Schlaf.

*

Als ich am nächsten Morgen wach werde, bin ich schon zweimal in der Nacht auf gewesen. Entsprechend übernächtigt fühle ich mich. Ich erhebe mich und gehe zum Wassertrog. Dort senke ich mein Gesicht in das kühle Nass, um klarer denken zu können, und schüttele danach die Wassertropfen ab.
Kurz darauf betritt Mister Wagner den Stall und kommt leise auf mich zu.

"Guten Morgen, Reign," flüstert er, um die anderen Ponys nicht zu wecken. "Na, wie hast du geschlafen?"

Ich drehe mich ihm zu und schaue ihn zweifelnd an.

"Du brauchst nicht nervös sein! Du hast viel trainiert. Gib einfach dein Bestes und dann werden wir sehen, was dabei herauskommt. Okay?" redet er mir gut zu.

Er hat einen kleinen Eimer dabei, den er in meinen Futtertrog ausleert.

"Jetzt gibt es erst einmal Frühstück!" sagt er, aufmunternd lächelnd. "Danach sieht die Welt gleich ganz anders aus!"

Ich senke den Kopf über den Trog und beginne, etwas lustlos, zu frühstücken.

Er entfernt sich wieder und kündigt mir an: "Ich hole dich gleich ab."

Ich schaue ihm nach und senke den Kopf wieder in den Trog. Mit meinen Gedanken bin ich schon auf dem Wettkampffeld.

Bald nähern sich wieder Schritte. Mister Wagner ist zurück und streift mir mein Zaumzeug über den Kopf.

"Gut, dann lass' uns mal aufbrechen!" meint er danach und befestigt eine kurze Führleine an einem der beiden Metallringe.

Draußen empfängt mich ein kühler Morgen. Die Tageslichtlampen zeigen 'Morgendämmerung' an. Die kühle Luft einatmend, spüre ich, wie die Müdigkeit schlagartig nachlässt. Mein Owner führt mich zu einer Lastenrikscha, die vor dem Haus wartet. Die Rampe ist schon heruntergelassen, so dass er mich gleich in meine Transportbox führen kann. Danach schließt er die Tür der kleinen Box und klappt die Rampe von außen hoch. Er setzt sich neben den Rikscha-Fahrer und kurz darauf beginnt die Fahrt.