Freitag, 5. Januar 2024
Geräusche der Nacht -23
"Kommst du mit in die Wanne?"

Er nickt und erhebt sich träge. Wir müssen uns eng ineinander verschlingen, um hineinzupassen. Eine Weile entspannen wir und schweigen. Dann fragt er:

"Wie fühlt es sich eigentlich so an, eine Gestaltwandlerin zu sein?"

"Ich weiß nicht..." antworte ich müde.

"Ich stelle es mir vor, wie eine gespaltene Persönlichkeit."

"Hm, ich denke nicht. Zwischen der Wölfin und mir gibt es keine Trennung. Ich bin nicht einmal ein instinktiv handelndes Tier, ein andermal ein rational handelnder Mensch. Ich bin sie und sie ist ich. In menschlicher Gestalt habe ich trotzdem ihre feine Nase und ihr gutes Gehör, zumindest ein bisschen was davon. Als Wölfin kann ich immer noch rational denken. Die Sinneseindrücke sind verschärft und sie lösen auch instinktives Verhalten aus. Ich muss mich dann sehr beherrschen. Das ist mühsam, aber auch sehr wichtig."

Er streicht mir zärtlich über meine Haare.

"Wie ist das, so lange zu leben?"

"Na, wie schon? Lang! Für das menschliche Auge altere ich nicht. Ich wünsche mir manchmal, wir könnten ganz offen unter den Menschen leben. Aber das geht nicht. Ich bin schon alles Mögliche gewesen, bevor ich dann meinen Abgang inszeniert und irgendwo anders neu angefangen habe."

"Kannst du auch längere Zeit in deiner Wolfsgestalt leben?"

"Theoretisch ja. Das birgt aber die Gefahr, sich in der Gestalt zu verlieren. Während der Ausbildung haben die Meister mir eingeschärft, nie zu lange in der Tiergestalt zu bleiben, um den Kontakt zum Menschen nicht zu verlieren."

Er drückt mir einen zarten Kuss auf die Schulter. Das Wasser fröstelt mich inzwischen. Ich steige aus der Wanne und wickele ein Badetuch um mich. Liam stemmt sich ebenfalls hoch und folgt mir. Ich reiche ihm ein anderes Badetuch, dann nehme ich ihn in die Arme und bette seinen Kopf an meiner Schulter. Er seufzt leise auf. Wir trocknen uns ab und kleiden uns wieder an. Zumindest bis zu meiner Wohnung wird sich niemand über die aufgeplatzten Nähte seine Gedanken machen.

Wir verabschieden uns an der Wohnungstür mit einem langen Kuss und einer innigen Umarmung.

*

Liam ist ein besonderer Mensch. Seit vierhundert Jahren habe ich nicht mehr einen solchen Menschen kennengelernt. Mir zu liebe hat er sich auf abendliches Jogging eingelassen. Immer wieder mal landen wir danach im Bett, entweder in seiner oder in meiner Wohnung. Rufus haben wir darüber vergessen.

Eines Abends, wir sind alleine im Grüngürtel unterwegs, will er wieder die Wölfin sehen. Die Wölfin in mir freut sich. Ich spüre ihren Bewegungsdrang. Ich entkleide mich und übergebe Liam meinen Jogging-Overall, Sneakers, Slip und BH. Dann gebe ich der Wölfin nach. Das Fell bricht durch meine Haut, ich krümme mich auf dem Spazierweg und mein Gesicht verändert sich.

Als die Wölfin frei ist, hetzt sie mit weiten Sprüngen über den Rasen neben dem Spazierweg davon. Liam folgt mir. Nach einiger Zeit stoppt die Wölfin und schaut sich nach Liam um. Langsam trottet sie zurück. Liam kommt keuchend näher. Nachdem die Wölfin und Liam sich wieder treffen, streicht sie um seine Beine. Liam hockt sich hin und die Wölfin reibt ihren Kopf an seinem Rücken und Oberschenkel, während sie ihn weiter umkreist.

"Darf ich die Wölfin streicheln," fragt Liam vorsichtig.

Die Wölfin atmet lautstark aus und wirft den Kopf hoch.