Sonntag, 14. Januar 2024
Geräusche der Nacht -26
"Ja, aber mit dem Biss legt Ihr Euer Menschsein ab."

Agnes fasst sich sanft an ihre Schulter. Sie antwortet:
"Ihr meint...?"

"Ja, genau. Ihr seid jetzt auch eine von uns. Wenn der nächste Vollmond kommt, werdet Ihr Eure erste Wandlung erleben."

"Tut das weh?"

"Nein, es ist nur ungewohnt. Danach könnt Ihr Euch nach Belieben immer wieder verwandeln."

Zur Mittagszeit bringt einer der älteren Männer einen toten Mann ins Lager. Magnus verwandelt sich in einen großen Wolf und stürzt sich auf den Toten. Er zerfetzt die Kleidung und gräbt seine Zähne tief in den Bauch des Mannes. Agnes schaut geschockt mit großen Augen zu.

Jemand sagt neben ihr:
"Hm, noch ganz frisch!"

Agnes rennt los und erbricht sich heftig, etwas abseits des Lagers. Das grausige Bild tanzt von ihrem inneren Auge. Wo befindet sie sich bloß hier? Etwa schon im Vorhof der Hölle?

"Geht es Euch gut?" fragt der Junge.

Er ist unbemerkt nähergetreten.

"Ich habe Angst," raunt sie ihm zu. "Muss ich auch...?"

"Ihr müsst nicht," flüstert er. "Nur wenn Ihr bei uns bleiben wollt, müsst Ihr."

"Ich bin kein Menschenfresser," schluchzt Agnes.

"Schsch." Der Junge legt ihr sanft den Finger auf die Lippen. "Ihr habt die Wahl. Es gibt andere, die leben ohne zu töten. Aber das ist der härtere Weg. Der Wolf in Euch verlangt nach Blut. Die anderen müssen das Raubtier ständig im Zaum halten."

"Wie finde ich die Anderen?"

"Sie finden dich, wenn du das willst."

Der Junge entfernt sich. Agnes starrt in die Bäume des Waldes bis ihr die Tränen kommen. Ihr Entschluss steht fest. Wenn sie den Rest ihres Seelenheils retten will, muss sie das Weite suchen.

Agnes wartet, bis alle schlafen. Dann schleicht sie sich davon. Die Nacht ist hell und voller Geräusche und Gerüche. Sie taucht in den Schatten der Bäume und reißt sich das Gewand vom Leib. Nur im Leibchen lässt es sich besser laufen. Sie rennt ohne Mühe. Noch nie hat sie sich so kräftig gefühlt. Umgestürzte Bäume und Büsche sind kein Hindernis. Sie läuft ohne Ziel. Nur weg von dieser Teufelsbrut.

Die blasse Scheibe des abnehmenden Mondes steht hoch über den Bäumen, als sie zum ersten Mal eine Pause macht. Sie fühlt sich beobachtet. Ob Magnus die Verfolgung aufgenommen hat? Sie schnuppert. Sein herber Duft liegt nicht in der Luft, dafür aber ein anderer, ihr noch unbekannter Duft. Ein feiner blumiger Duft, der sie an eine Frau denken lässt.

Agnes läuft weiter und wundert sich dabei, dass sie noch immer nicht außer Atem ist. Nach einer Weile wird der fremde Duft stärker. Jetzt meint sie auch, einen Schatten zwischen den Bäumen zu sehen. Ihre Beine bringen sie auf eine Lichtung. Rehe stieben davon. Sie unterdrückt den Impuls, ihnen nachzujagen.

Als sie gegenüber der Lichtung wieder unter die Bäume tauchen will, sagt eine weibliche Stimme neben ihr:

"Du kannst jetzt aufhören, wegzurennen. Du bist angekommen."

Die Frau umfasst ihre Hüfte. Mit einem Schrei will sich Agnes befreien, doch die Fremde ist überraschend stark. Im fahlen Mondlicht sieht sie eine Frau, schlank und zierlich, vor sich. Feuerrote Locken fallen ihr von den Schultern. Sie trägt ein leichtes Leinenkleid und ist barfuß.