Montag, 8. Januar 2024
Geräusche der Nacht -24
Er streckt seine Hand aus, streichelt ihr über die Stirn und krault sie hinter den Ohren. Nun hat er das Gefühl, dass die Wölfin grinst, während sie sich an ihn drückt. Er krault sie unter dem Kinn.

"Ich glaube, ich habe mich gerade ziemlich verausgabt," meint Liam. "Komm, wir gehen zurück."

Während Liam spricht, erhebt er sich und geht in Richtung Uni-Center zurück. Die Wölfin trabt ein paar Schritte vor und wendet sich nach ihm um. Sie wartet, bis er aufgeholt hat, um danach wieder ein paar Schritte vorzulaufen. Einmal hetzt sie in weiten Sprüngen auf der Wiese an ihm vorbei. Er schaut sich um, aber da hat sie schon gestoppt und hetzt zurück. Das macht sie ein paar Mal, immer dicht an ihm vorbei.

Plötzlich rammt sie ihre Schnauze in seine Kniekehle, so dass er zusammenklappt wie ein Zollstock. Als er auf dem Boden liegt, kommt sie heran und leckt ihm mit ihrer Zunge durchs Gesicht.

Lachend wehrt er Marga in ihrer Wolfsgestalt ab und erhebt sich wieder. Er sammelt ihre Kleidungsstücke wieder ein, die er über dem linken Unterarm getragen hat und sie geht leichtfüßig neben ihm her. Als sie sich dem hohen Gebäude des Uni-Centers mit seinen vielen erleuchteten Etagen nähern, macht die Wölfin einen Schlenker und verschwindet hinter einem Busch. Kurz darauf guckt Margas Kopf über die Zweige des Busches.

"Liam? Bringst du mir bitte die Kleider?"

Er geht zu ihr und übergibt ihr die Unterwäsche und kurz darauf den Jogging-Overall und die Schuhe. Arm in Arm schlendern sie auf das Gebäude zu.

Dabei meint er:
"Wenn du mich beißt, könnte ich für immer mit dir leben..."

Marga trennt sich von ihm, macht einen Schritt zur Seite und schaut Liam entgeistert an.

"Du willst einmal Wächter-Druide werden, Liam. Da müsstest du die Regeln kennen. Wenn nicht, frag' Meister Aidan oder einen der Anderen. Bitte mich niemals, dich zu beißen!"

"Aber was würden die Leute sagen, wenn ich als 80jähriger mit einer etwa 30jährigen zusammenlebe?"

"Liam, wie alt sind die Meister Gwydion, Ulik oder Aidan?"

"Ich weiß es nicht," gibt er zu. "Auf jeden Fall sehr sehr alt."

"Frag' sie also während ihrer Unterweisung, wie sie es schaffen, so alt zu werden. Frag' sie, ohne auf mich hinzuweisen. Du erfährst dann sicher, wie sie die letzten Jahrhunderte überstanden haben. Welcher Kräutertee - zum Beispiel - ihnen ermöglicht, so lange zu leben. Dann erfährst du auch, wie man jahrhundertelang mit einer Gestaltwandlerin leben kann, ohne eine Regel zu brechen."

Marga nähert sich ihm wieder und legt ihren Arm um seine Taille. Liam nickt und legt seinen Arm um ihre Schultern. Marga reckt sich und küsst ihn auf die Wange.


---Die Wölfin in dir---

--August 1609 Spessart--
Agnes Hofer zieht die Tür hinter sich zu. Sie rafft ihre Röcke, damit sie im Dreck der Straße nicht schmutzig werden. Danach strebt sie auf den wartenden Wagen zu, vor dem ein Kaltblut angespannt ist. Dort angekommen klettert sie auf die Pritsche und nimmt die Zügel in die Hand. Sie schnalzt mit der Zunge und das Kaltblut setzt sich behäbig in Bewegung. Nun lenkt sie das Pferd vom Hof herunter.

Nachdem sie sich vom Hof entfernt hat, nimmt sie die lederne Maske vom Gesicht. Sie ist mit in Essig getränkten Tüchern ausgestopft, die die Atemluft filtern sollen. Die Ausdünstung des Essigs hat sie während des Besuchs genug behindert. Er beißt in der Nase und treibt Tränen in die Augen. Aber er ist momentan der einzige Schutz gegen die Geißel Gottes.

Das letzte Aufflackern des schwarzen Todes liegt schon über 100 Jahre zurück. Nun ist er zurückgekehrt. Damals hat noch niemand gewusst, wie die Pest sich verbreitet, dass man sich an den Kranken vergiftet, nur weil man sich in ihrer Nähe aufhält. Die Bevölkerung wurde damals nahezu halbiert. Heute weiß man mehr und bringt alle Kranken und deren Kontaktpersonen aus der Stadt auf die umliegenden Felder, teils in primitive Hütten, teils unter freiem Himmel.

Agnes versucht die Gedanken an die Familie zu verdrängen, die sie gerade besucht hat. Dem Kind im Leib der werdenden Mutter geht es gut. Die Geschwulst unter dem Kinn der Mutter zeigt allerdings, dass es seine Geburt nicht mehr erleben wird.