Donnerstag, 11. Januar 2024
Geräusche der Nacht -25
Agnes Hofer, gelernte Hebamme, ist auf dem Weg zur nächsten werdenden Mutter, als plötzlich drei Wölfe auftauchen und das Gespann von der Seite angreifen. Ein Wolf hat seine Zähne in den Hals des Kaltblutes geschlagen. Ein anderer Angreifer ist ihm auf den Rücken gesprungen und schlägt seine Zähne in die Halswirbelsäule. Das angstvolle Wiehern erstirbt und das Kaltblut bricht im Geschirr zusammen. Wo ist der dritte Wolf?

Im gleichen Moment, indem die Frage in ihrem Kopf aufflackert, gräbt Isegrim seine Zähne in ihre Schulter. Sie schreit auf, lässt die Zügel los und fällt hintenüber. Ungläubig verfolgt sie die Verwandlung des Wolfes in einen Menschen. Er setzt sich neben sie und hilft ihr in sitzende Stellung hoch.

Nun lächelt er sie an und sagt:
"Gott zum Gruß! Ich heiße Magnus. Wer seid ihr?"

Agnes zittert am ganzen Körper. Sie bewegt den Mund, aber kein Wort kommt über ihre Lippen.

"Keine Angst, schöne Frau," versucht der Mann sie zu beruhigen.

"Wer seid Ihr?" fragt Agnes mit zittriger Stimme.

"Wir beobachten die Kranken," antwortet er und erhebt sich.

Er hält ihr die Hand hin und sie lässt sich hochziehen. Die Maske nimmt sie ab. Sie behindert sie beim Schauen. Der Mann klettert vom Wagen und fordert sie auf, herunter zu steigen. Ohne Pferd hat es keinen Sinn auf dem Wagen zu bleiben. Also kommt sie der Aufforderung nach.

"Wo wohnt Ihr?" fragt sie den Mann.

Er zeigt auf den nahen Wald und sagt:
"Kommt mit, seid unser Gast."

"Aber ich muss mich um die Kranken kümmern!" begehrt Agnes auf. "Es gibt immer weniger Ärzte, und ich kenne mich in Kräuterkunde aus."

Der Mann reagiert jedoch nicht auf den Einwand. Er hält sie an der Hand, seit er ihr vom Wagen geholfen hat. Jetzt geht er in Richtung Wald davon und zieht sie hinter sich her.

"Lasst mich los! Bitte!" versucht Agnes eine neue Gegenrede.

Aber der Mann lässt nur ein gefährliches Knurren hören. Eingeschüchtert folgt sie dem Mann. Sie durchqueren den Wald bis sie am Nachmittag eine Bodenspalte erreichen. Der Mann hilft ihr hineinzuklettern. Nach kurzer Zeit entdeckt sie einen Felsüberhang, unter dem weitere Männer an einem Feuer sitzen. Sie braten Fleisch.

Auch Agnes bekommt etwas davon ab. Während Agnes ihren Hunger stillt, bringt der Mann ihr warme Milch. Später schläft sie erschöpft ein. Als sie wieder erwacht, hat gerade die Morgendämmerung eingesetzt. Sie schaut nach ihrer Schulter und wundert sich, dass die Wunde kaum noch sichtbar ist. Nur das zerrissene Schulterstück ihres Kleides erinnert noch an die Begegnung mit dem Wolf, oder was das gestern gewesen ist.

Noch etwas ist neu: Sie spürt Gerüche, so intensiv, dass ihr beinahe schwindlig davon wird. Außerdem verspürt sie einen Hunger, wie noch nie in ihrem Leben. Magnus und seine Gruppe, die er Rudel nennt, kommt von der Jagd und zieht dem Wild das Fell ab. Dann wird es ausgeweidet und über dem Feuer gebraten. Agnes bekommt große Stücke davon ab. Dabei muss sie an den Traum denken, den sie in der Nacht gehabt hat. Dass sie ein Reh gejagt hat und das rohe, warme Fleisch heruntergeschlungen und dass sie sich an dem pulsierenden Blut der Halsschlagader gelabt hat.

Das jüngste Mitglied der Gruppe nähert sich ihr und bringt ein Stück gebratenes Fleisch mit Knochen.

"Möchtet Ihr essen?" fragt er.

Agnes schreckt aus ihren Gedanken.

"Esst, sonst nehmen es die anderen."

Dankbar nimmt sie das Fleisch an. Während sie es vom Knochen pflückt, fragt sie den jungen Mann:

"Warum tragt ihr keine Kleidung?"

"Brauchen wir nicht," antwortet dieser. "Wir sind keine Menschen, deshalb gelten für uns deren Regeln nicht."

"Aber ihr wardt irgendwann welche?"