Sonntag, 18. Februar 2024
Geräusche der Nacht -39
Sie nehmen von dem Gebäck auf dem Couchtisch. Marga schaut Sophia in die Augen.

"Darf ich dich einmal etwas Intimes fragen? Du brauchst nicht antworten, wenn du nicht magst!"

"Ja?"

"Ist dir eine Grete bekannt?"

"Grete?" fragt Sophia und schaut sie entgeistert an.

"Du bist eine Gestaltwandlerin und gehörst damit zu uns!" bemerkt Marga trocken.

Mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Marga ergänzt mit einem warmen Lächeln:

"Keine Angst! Du bist nicht enttarnt. Aber wir gehören zum gleichen Rudel, wenn man diesen Ausdruck einmal auf uns anwendet. Wir sind alle in 'Dair' auf unser Leben unter den Menschen vorbereitet worden. Liam ist bald ein Wächter, wie die Meister. Er ist allerdings nicht gleichzeitig auch ein Gestaltwandler, wie es Grete ist."

"Phuu," macht Sophia und stößt den angehaltenen Atem geräuschvoll aus.

Ihr Interesse ist geweckt. Also fragt sie Marga, wie und wann sie zum 'Dair' gekommen ist. Marga erwähnt in ihrer Geschichte einen Gestaltwandler, Hannes, den Sophia auch noch nicht kennt. Er wäre mit seiner Freundin in Köln geblieben. So leben zumindest nicht zu viele Gestaltwandler an einem Platz.

An ihrer Zeitangabe erkennt Sophia, dass sie kurz nach deren Weggang zum 'Dair' gekommen ist. Nun erzählt sie ihr auch ihre Geschichte.

"Ich bin mit Tate und Muhme zum Gnadenbild der Mutter Maria unterwegs gewesen. Die Eltern wollten dort für ein Geschwisterchen beten. Sie sind über einen Waldweg für Holzfäller in den Wald gefahren, um den Weg abzukürzen. Im Dämmerlicht zwischen den Bäumen wurden wir von Raubtieren überfallen. Sie haben Tate und Muhme und unsere Rosalie umgebracht. Ich lag unter den Eltern und hatte solche Angst. Ich wagte nicht zu atmen und mich nicht zu bewegen.
Nebenbei schmerzte mein Oberarm, wo mich eines der Raubtiere erwischt hatte. Plötzlich kam ein Sturm auf, der so stark am Wagen rüttelte, dass ich zusätzlich Angst bekam, er würde jeden Moment umkippen. Die Raubtiere sind weggelaufen und eine Frau mit langen lockigen Haaren hat mich unter Tate und Muhme hervorgezogen. Sie hat mich über ihre Schulter gelegt und etwas gemurmelt. Dann habe ich nichts mehr erkennen können bis wir auf einem Feld standen.
Die Frau hat mich abgesetzt und neben sich auf den Boden gestellt. Ich sollte der Frau die Hand geben. Sie hat in der anderen Hand eine Flasche gehabt und ließ daraus einen Tropfen auf den Boden fallen. Im selben Moment bekam ich Panik, weil eine Windhose uns mit sich nahm. Das passierte noch ein paar Male, bis wir vor einer riesigen Eiche ankamen. Dort sind wir in einen Saal unter der Erde gegangen.
Da waren drei alte Männer in weiten Mänteln, noch eine Frau und ein weiterer Mann. Die alten Männer hat mir die Frau als die Meister Ulik, Aidan und Gwydion vorgestellt. Sie selbst hat sich Grete genannt und das Paar als Markus und Agnes vorgestellt. Ich blieb dann noch viele Jahre dort. Agnes und Markus wurden mir zu neuen Tate und Muhme. Ich habe sie liebgewonnen in all der Zeit. Grete ist viel unterwegs gewesen. In der Zeit, in der sie sich in 'Dair' aufhielt, hat sie mich viel gelehrt. Aber auch Muhme Agnes hat mir viel beigebracht. Sie haben mir die Furcht vor meiner ersten Wandlung genommen.
Dann musste ich 'Dair' verlassen. Ich bin viel umhergewandert und habe schließlich einen Handwerksgesellen auf der Walz kennengelernt. Wir haben uns angefreundet. Ich habe mich irgendwann nach Grete, Agnes und Markus gesehnt und wollte nach 'Dair' zurück. Doch Grete hat mir verboten, mich 'Dair' zu nähern.
Magnus, der Anführer der Wölfe, die dort herumstreifen, sei hinter mir her und ich solle ihn und sein Rudel nicht zum 'Dair' führen. Ich habe mich dann nach Agnes erkundigt. Schließlich haben mir Bauern einen Tipp gegeben. Eine Agnes Brauer lebe in Gelnhausen als Hebamme, hieß es. Agnes hat mir in den Jahren beim 'Dair' davon erzählt, dass sie früher einmal Hebamme und Kräuterweib gewesen ist. Bastian, mein neuer Freund, war begeistert. Er sagte, in Gelnhausen leben Verwandte von ihm. Vielleicht fände er dort Arbeit.
Also haben wir uns dorthin aufgemacht. Ich habe mich erschrocken über die vielen Pestkranken in der Stadt. Wir hatten uns schnell zu der Hebamme Brauer durchgefragt... Dann wurde Bastian krank. Agnes und Markus haben entschieden, ihn aus der Stadt heraus zu bringen, damit er von den Bürgern nicht in die Sperrzone gebracht wird.
In einem Wäldchen vor der Stadt sind wir einem Spähtrupp von Magnus Rudel begegnet. Es kam zum Kampf, bei dem Bastian gebissen wurde. Wir haben ihn nach 'Dair' gebracht. Leider musste ich mich dort von ihm trennen. Ich bin zu Agnes gegangen und habe ihr viele Jahre als Gehilfin bei ihrer Arbeit zur Seite gestanden, aber Bastian ist nicht mehr zu uns gestoßen."