Geräusche der Nacht -30
Nun stehen sie alle auf der Wiese vor der großen Eiche und halten sich an den Händen. Die beiden Druiden und auch Grete murmeln uralte Gebete. Nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, wird es allmählich dunkler. Die bleiche Scheibe des Vollmondes wird am Horizont sichtbar. Agnes fühlt ein Prickeln am ganzen Körper. Plötzlich hat sie das Gefühl zu wachsen. Gleichzeitig spürt sie den unbändigen Drang, sich hinzuhocken.

Sie lässt die Hände der Anderen rechts und links von sich los und gibt dem Drang nach. Sofort greifen sich ihre Nachbarn an den Händen und nehmen sie in die Mitte. Stoff reißt und als sie an sich herunterschaut, erkennt sie zwei kräftige behaarte Vorderbeine, ausgehend von ihren Schultern. Pfoten, die rennen wollen, stützen sich auf dem Gras auf. Sinneseindrücke strömen auf ihr Gehirn ein. Die Nacht ist plötzlich angefüllt von Gerüchen und Tönen. Sie hebt den Kopf gen Himmel und heult. Danach dreht sie sich im Kreis, um nach allen Seiten zu wittern. Sie hechelt. Ihre Läufe zucken. Innerlich ruft sie sich zur Ruhe:

'Jetzt noch nicht!' befiehlt Agnes der Kreatur, in der sie steckt.

Die Kreatur duckt sich und knurrt, bleibt aber auf ihrem Platz inmitten der Anderen. Das gibt Agnes Selbstvertrauen. Plötzlich steht ein schlanker Wolf mit hellem Fell neben ihr.

'Komm!' hört sie in ihrem Kopf.

Die andere Wölfin läuft ein Stück vor, bleibt stehen und schaut zurück.
‚Komm!‘ nimmt sie wieder wahr.

Sie stößt sich von der Wiese ab und macht einen weiten Satz nach vorne. Dann verfolgen sich die beiden Wölfinnen. Es wird Mitternacht bis Grete und Agnes wieder bei 'Dair' zurück sind. Meister Aidan lässt sie in den Bau unter der Eiche hinein. Sie trotten an ihre Schlafplätze, wandeln sich wieder in ihre menschliche Gestalt, ziehen ihre Nachtgewänder an und decken sich zu. Kurz darauf hört man regelmäßige Atemzüge, die davon künden, dass Grete und Agnes eingeschlafen sind.

*

Als Sophia am Morgen ihres ersten Tages bei ihnen erwacht, ist Grete schon wieder im Wald unterwegs. Agnes hat sich an die Feuerstelle begeben und bereitet das Frühstück vor. Sophia setzt sich auf und schaut zu. Als Agnes ihren Blick zu Sophia wandern lässt und sie auf den Decken sitzen sieht, füllt sie eine große Schüssel mit Wasser und bringt sie zu der Kleinen. Nun überwacht sie deren Morgenhygiene und lobt sie:

"Das hast du wunderbar gemacht, Sophia. Hast du Hunger?"

Das Mädel nickt eifrig und schaut erwartungsvoll.

"Setz dich schon einmal an den Tisch. Ich serviere gleich das Frühstück," bietet Agnes ihr an. "Magst du Eierkuchen?"

"Au ja!" ruft Sophia aus, um leiser zu fragen: "Ist das hier das Paradies?"

"Du meinst, ob du gestorben und in den Himmel gekommen bist? Nein, dies hier ist noch immer dein Erdenleben, nur ganz anders, als du dir vorstellen kannst, Liebes. Es gibt so viel mehr zwischen Himmel und Erde, als du dir denken kannst..."

"Magst du mir davon erzählen?"