Samstag, 22. Mai 2021
Mars12-Willow (7)
Auf die gleiche Weise öffne ich die gegenüberliegende Tür. Sie aufschwingen zu lassen ist etwas schwieriger, denn der Türflügel schwingt nach innen auf. Aber auch das schaffe ich mit Beharrlichkeit. Vorsichtig riskiere ich einen Blick auf den Gang hinaus. Ich kann niemand entdecken, also mache ich einen Schritt vor und ziehe die Tür hinter mir zu. Danach husche ich den Gang entlang. Ich muss zu einem der Treppenhäuser finden. Mein Herz schlägt bis zur Brust.
Mit unsicheren und beinahe torkelnden Schritten komme ich an vielen Türen vorbei, die alle gleich aussehen. Nur die Türschilder geben Auskunft, was sich dahinter verbirgt. Damit ich bei einer Begegnung nicht sofort aufgehalten werde, brauche ich irgendetwas, um meinen Körper zu bedecken!
Ich schenke den Schildern nun doch mehr Beachtung. Plötzlich finde ich ein Schild mit der Aufschrift ?Medizinische Ausrüstung? neben einer Tür. Ich drehe mich wieder mit dem Rücken zu ihr und drücke die Türklinke. Hoffend, dass sich niemand in dem Zimmer befindet, drücke ich gegen das Türblatt, gehe in den Raum und drücke die Tür wieder zu.
Ich habe Glück. Der Raum ist verlassen. Nach kurzer Suche finde ich den Lichtschalter und schaue sich um. Der Raum ist mit Regalen vollgestellt. An einigen Haken hängen einzelne Kittel. Einer davon scheint für eine großgewachsene Person bestimmt zu sein. Irgendwie schaffe ich es, ihn mir über die Schultern zu hängen. Dabei bin ich arg ins Schwitzen geraten und mein Herz will sich immer noch nicht beruhigen. Es hämmert unvermindert stark gegen meine Rippen.
Ich verlasse den Lagerraum vorsichtig und gehe langsam weiter in die gewählte Richtung. Schließlich erreiche ich das Ende des Ganges und damit ein Treppenhaus. Für einen Augenblick bleibe ich stehen und atme ein paar Mal tief durch. Bald habe ich es geschafft. Stumm rede ich mir Mut zu und betrete die Treppe nach unten. Ich werde ganz sicher nicht so schnell aufgeben!
Im Foyer angekommen wäre ich am liebsten gleich wieder umgekehrt, denn am Schalter hält sich nicht nur die Concierge auf. Ein fremder Mitarbeiter steht außerdem am Schalter und unterhält sich recht angeregt mit der Frau.
Es hilft nichts. Möglichst unauffällig gehe ich weiter und steuere dabei zielstrebig auf den Ausgang zu. Mein Herz scheint stehen zu bleiben, als ich eine Stimme in meinem Rücken höre:
?Hey, warten Sie bitte kurz!?
Ich beschleunige meine Schritte, so gut es die ungewohnten Schuhe zulassen und tue einfach so, als ob sie die Worte nicht gehört hätte. Sofort danach kann ich eilige Schritte hinter mir hören. Die Tür ist schon fast erreicht, der Weg in die Freiheit nicht mehr weit entfernt.
?Geben Sie Alarm, wir haben einen Flüchtling!? ruft der Mann hinter mir der Concierge zu.
Dann hat mein Verfolger mich erreicht. Eine kräftige Hand packt mich an der Schulter und reißt mich herum. Dabei verliere ich das Gleichgewicht in den Klauenschuhen und falle gegen den Mann. Er umfasst mich und stellt mich wieder auf meine Füße.
?Hiergeblieben!? befiehlt er. Seine Stimme lässt keinen Widerstand zu.
Ich will protestieren und bringe ein lautes ?Muuuh!? heraus. Meine Augen weiten sich vor Schreck. Ich habe nicht erwartet, dass meine Umwandlung schon so weit fortgeschritten ist. Sie haben mir sogar schon meine Stimme genommen. Nun bin ich nicht mehr in der Lage, auch nur ein einziges verständliches Wort über die Lippen zu bringen.
Aus Wut und Verzweiflung treten mir Tränen in die Augen. Ich bin dem Ziel so nahe gewesen, wäre um ein Haar entkommen. Wieso nur ist das Leben so grausam zu mir? Was habe ich verbrochen, dass ich vom Schicksal derart gestraft werde?
Nicht lange danach ist das Foyer voller Menschen. Mehrere Mitarbeiter des Ministeriums sind dem Alarm gefolgt. Auch zwei Ärzte kommen angelaufen. Sie packen mich an den Schultern und ziehen mir den Arztkittel aus.
?Sie war schon an der Tür, als Thomas sie gestoppt hat,? sagt die Concierge.
?Das war knapp! Ich habe überhaupt noch nie erlebt, dass eines versucht hat, zu flüchten,? meint dieser Thomas und schüttelt den Kopf.
?Ihre Lebensnummer ist LR 25121176,? liest einer der Männer meine Plakette ab.
?Das ist Willow Makenzie!? sagt die Concierge, nachdem sie die Nummer in ihren Laptop eingetippt hat.
?Wir bringen sie zurück in ihr Zimmer,? meint ein anderer Mann.