Freitag, 24. Februar 2023
Wolfskind -02
Anschließend ziehe ich mich wieder zwischen die Birken zurück und verharre horchend. Nach einiger Zeit höre ich ein Tier durch den Schnee stapfen. Es gebraucht allerdings einen ungewöhnlichen Rhythmus dabei. Ich lege einen Pfeil auf die Sehne und spanne den Bogen. Dann drehe ich mich um mich selbst, um nach allen Seiten zu sichern.

Plötzlich sehe ich einen silbergrauen Wolf zwischen den Bäumen, der sich mir langsam nähert. Wir haben eine spirituelle Verbindung zu den Wölfen, nach denen auch unser Clan benannt ist. Mama, unsere Schamanin erneuert die Verbindung rituell in regelmäßigen Abständen. Dennoch muss ich vorsichtig sein.

Ich richte den gespannten Bogen auf den Wolf, aber erkenne bald, dass von ihm keine Gefahr für mich ausgeht. Der Wolf hinkt. Er hat sich eine seiner Pfoten verletzt. Etwa zwei oder drei Jahre dürfte er alt sein.

Auf drei Pfoten kann er seine Beute nicht hetzen, bis sie zusammenbricht. Also wird er eine Gefährtin mit gerade geborenen Welpen nicht ernähren können. Aber auch ihm selbst scheint es nicht gut zu gehen. Er ist stark abgemagert und scheint ziemlich kraftlos. In einigen Schritten Entfernung legt er sich auf den Schnee ab und schließt die Augen, als ergebe er sich in sein Schicksal. Ich kann dabei nicht zusehen!

Den Bogen entspannend und den Pfeil in den Köcher zurückschiebend, nähere ich mich dem Wolf. Er öffnet müde die Augen, als ich neben ihm auf die Knie gehe und den Bogen auf den Schnee neben mir ablege.

Ich nehme das Obsidian-Messer aus meinem Gürtel und lege ihm die Hand auf den Kopf. Ich rufe den Großen Geist in einem Gebet an, das Mama mir schon oft vorgesprochen hat, wenn ich bei ihren schamanischen Ritualen zugeschaut habe. Dann hebe ich den Unterkiefer des Tieres vor mir vorsichtig an. Der Wolf zeigt keine Gegenwehr. Mich trifft ein Blick aus seinen Augen und er zieht die Lefzen lang.

Mit einem schnellen kraftvollen Schnitt schneide ich ihm die Kehle durch und öffne die Halsschlagader. Danach drehe ich den Wolf auf den Rücken und enthäute ihn. Anschließend sammele ich Steine entlang des Baches und lege sie um und auf den Leichnam. Wieder rufe ich Manitou an, damit der Große Geist sich seiner annehmen möge. Dann bearbeite ich die Hautseite des Wolfsfelles und mache mich auf den Rückweg zu unserer Siedlung. Auf meiner Wanderung muss ich noch einmal in der Wildnis übernachten. Im Schlaf habe ich die Vision, dass ein Wolf mit der Fellfärbung und dem abgemagerten Aussehen wie der den ich getötet habe, an meiner Seite bleibt und mich beschützt.

Am nächsten Tag erreiche ich unsere Siedlung. Das Wolfsfell liegt über meiner rechten Schulter. Als erstes treffe ich einen jungen Mann, der mir schon früher unangenehm aufgefallen ist. Er schaut mich an, sieht das Wolfsfell und sagt:

"Wölfe jagt man nicht! Du hast einen Frevel gegen die Geister begangen!"

"Nein!" entgegne ich entschieden. "Ich habe ihn von seinem Leiden erlöst!"