Giselle (5)
Sie schaut erstaunt.
„Aber ja, Gigi. Ich verarbeite allenfalls Halbfertigprodukte, keine Fertigprodukte! Hauptsächlich aber Rohware.“
„Hm, du machst mich neugierig!“
Sie lächelt mich offen an.
„Du hast jetzt lange Zeit gesessen im Zug und im Auto. Du kannst gerne einen Erkundungslauf machen, um die steifen Glieder wieder beweglich zu machen,“ ich grinse etwas. „In der Zwischenzeit zaubere ich etwas in der Küche. Wenn du zurück bist, essen wir.“
„Okay, aber morgen helfe ich dir in der Küche!“
„Gern, Gigi! Schau mal, geh ruhig zur Veranda raus. Ich lasse die Tür angelehnt, so kannst du jederzeit wieder hereinkommen!“
„Also gut, Peter. Bis gleich dann.“
Gigi erhebt sich mit mir und ich lasse sie hinten hinaus. Die Fensterschiebetür ziehe ich nur zu, ohne sie abzuschließen. Dann gehe ich in die Küche.
Eine halbe Stunde später sehe ich sie in den Augenwinkeln die Küche betreten. Ich streue gerade noch Zucker über die Creme in zwei Schälchen und karamellisiere ihn mit einer offenen Flamme. Dann fordere ich Gigi auf:
„Setz dich schon mal. Ich komme sofort.“
„Wo hast du das Besteck?“ fragt sie.
Ich zeige ihr die Schublade und sie nimmt das Besteck, um es auf dem Tisch zu verteilen. Dann geht sie vor und ich folge ihr nachdem ich zwei Suppenteller mit einer Erbsencremesuppe gefüllt und einen weißen Streifen mit saurer Sahne aufgebracht habe.
Wir setzen uns gegenüber und ich teile ein Brötchen. Eine Hälfte gebe ich ihr, dann wünsche ich ihr einen guten Appetit.
Sie erzählt während des Essens von der bisher ergebnislosen Wohnungssuche.
Dann sagt sie leise: „Ich fühle mich in deiner Gegenwart richtig wohl. Ich würde gern noch etwas bleiben.“
Danach schaut sie auf und meint: „Ich weiß nicht, wieso ich das gesagt habe.“
Ich räume die Teller ab und bringe Kohlrouladen mit Petersilienkartoffeln an den Tisch. Während wir die Teller des Hauptganges leeren, sage ich:
„Du musst dich nicht entschuldigen! Fühle dich ruhig wie zuhause. Denke daran: Du bist hier, um dich zu erholen, um auf andere Gedanken zu kommen!“
„Du kochst sehr gut,“ entgegnet sie mir. „Hab vielen Dank für alles. Was muss ich dafür tun?“
„Gar nichts,“ wiegele ich ab. „Keine Sorge.“
Danach bringe ich das Creme brullee an den Tisch. Ich setze ihr ein Schälchen vor und das Andere an meinen Platz. Dann nehme ich wieder Platz.
Gigi erhebt sich in diesem Moment von ihrem Platz und kommt neben mich. Ich schaue erstaunt zu ihr auf.
„Das sieht aber gut aus, darf ich mal kosten?“ fragt sie.
Ich blicke irritiert auf ihr volles Schälchen an ihrem Platz.
Sie fordert mich aber auf:
„Was ist? Wäre es dir lieber, ich säße vor dir auf dem Boden?“
Ich muss darüber schmunzeln und sage:
„Wenn du willst… Dann füttere ich dich eben.“
Sie lässt sich neben mir auf dem Boden nieder und hebt den Kopf, den Nacken an meinen Oberschenkel gelegt. Ich beginne sie löffelweise aus meinem Schälchen zu füttern. Dabei streiche ich mit der anderen Hand gedankenverloren durch ihr Haar und schließlich lehnt sie sich an mich, mit geschlossenen Augen genießend.
Ich biete ihr jetzt an, ihren Kater neben meiner Hündin zu begraben, einer Eingebung folgend.
„Dann hast du einen Grund öfter vorbei zu schauen, wenn dir die Gegend hier auch so gut gefällt!“ ergänze ich.
„Wenn ich das nächste Mal hierherkomme, Peter, bringe ich ihn bestimmt mit!“
‚Oh, habe ich sie für mich, das Haus und die Landschaft begeistern können?’ frage ich mich in Gedanken.
„Ich habe überlegt,“ entgegne ich ihr. „Ich glaube, dass du physisch sehr stark bist. Psychisch/mental dagegen bist du sehr anlehnungsbedürftig, wenn nicht gar devot.“
„Devot? Was meinst du damit?“ fragt sie stirnrunzelnd zurück.
„Na, anpassungswillig, Verantwortung abgebend. Du lässt das Leben gern laufen, statt steuernd einzugreifen.“
„Hm, ich glaube nicht.“
Sie schaut mich skeptisch an. Ich bohre weiter:
„Hast du noch nie über diesen Lebensstil nachgedacht?“
„Diesen… Lebensstil??“
Sie schaut mir nun prüfend ins Gesicht. Ich schaue betont desinteressiert und zucke mit den Schultern. Springt sie jetzt auf und will nachhause gebracht werden, bzw. zurück zum Bahnhof?
Aber nein, sie bleibt sitzen und nimmt den Faden auf, den ich ihr hingeworfen habe.
„Ich glaube, ich habe schon einmal davon gehört. Aber – diesen Lebensstil, den kenne ich so gar nicht…
Ich habe vor ein paar Jahren den Film ‚Die Geschichte der O’ im Kino gesehen. Seltsamer Film! Aber ich… Naja, ich habe mir vorgestellt die O zu sein. Eine Mischung aus Vergnügen und Schmerz.“
Ich warte, bis sie geendet hat, dann sage ich:
„Auf viele hat das eine große Wirkung.“
Gigi lächelt und schaut mich offen an.
„Dann gibt es diesen Lebensstil wirklich?“
Ich antworte ihr: „In gewisser Weise gehe ich auch – alternativen Lebensstilen nach. Wenn du zum Beispiel mit mir experimentieren würdest, könnte ich dich auf ein Haustier trainieren, auf einen kleinen Hund…“
Gigi’s Mund steht offen: „Einen Hund? Du meine Güte!“
Ich lasse nicht locker: „Weißt du, wie meine Kessi. Wenn Menschen auf Haustiere trainiert werden, verändert sich ihre gesamte Wahrnehmung. Der Alltag wird unwichtig. Das Ausleben der Gefühle, sofort wenn sie in dir aufsteigen, wird dich ausfüllen. Du fühlst dich frei, befreit von gesellschaftlichem, moralischem Ballast. Frei wie ein Schmetterling, der sich aus seiner engen Puppe befreit. Denke in aller Ruhe einmal darüber nach.“