Giselle (23)
„Was ist daran falsch, ihr direkt in die Augen zu schauen?
Schön! Sie ging mit!
„Das wäre ein widersprüchliches Signal in der Hundewelt! Menschen, die sich direkt anschauen, signalisieren damit Aufmerksamkeit. ‚Sie wenden sich dem Gegenüber zu.’ In der Hundewelt darf nur das Alphatier den anderen direkt anschauen. Eine Warnung, auf die der andere mit einem Beschwichtigungssignal reagiert, wie zum Beispiel mit dieser Spielaufforderung. ‚Wer spielt, hat keine Aggression im Sinn.’
Das ist dann aber Deeskalation und keine echte Spielaufforderung!“
„Aber wenn ich ein Alphatier wäre, was ich nicht bin. Aber einmal angenommen?“
„Und du würdest bei der Spielaufforderung, dein Gegenüber fixieren? Dann würde die Spielaufforderung als Beruhigungssignal im Rudel gewertet. Ein aufgeregtes Rudel würde sich allmählich beruhigen. Als nächstes würde der Rudelführer sich den Mitgliedern seines Rudels nähern und ihnen seinen Kopf auflegen zum Beispiel. Sie würden das mit abgewandtem Blick zulassen. Das Kopfauflegen ist eine Dominanzgeste.“
„Oh.“
Wieder entsteht eine Gedankenpause. Ich lasse sie ihr. Dann sagt sie:
„Du weißt aber eine Menge über Hunde…“
„Wie sonst könnte ich dir Hilfestellung in deiner Rolle geben?“ antworte ich ihr.
Ich will jetzt nicht weitergehen, sondern ihr Zeit geben für weiteres Reflektieren. Dann kommt auch schon ihre nächste Bemerkung:
„Dann hast du gesagt, der Hund züngelt. Er leckt sich über die Nase. So eine lange Zunge habe ich aber nicht…“
„Das macht der Hund, wenn er sich unsicher fühlt. – Hunde haben eine längere Zunge, die sie auch zum Greifen oder Schöpfen nutzen können. Das fehlt naturgemäß dem Menschen. Leck’ dir einfach über die Lippen aus Unsicherheit!“
„Wenn ich recht überlege, passiert mir das manchmal auch so. Aber auch, wenn ich hochkonzentriert bin.“
„Siehst du! Zu dieser Geste hast du also einen einfachen Zugang.“
„Wenn Hunde die Zunge auch zum Schöpfen nutzen, Menschen das aber nicht können, dann gibst du mir aber kein Wasser im Napf zum Trinken?“
Lächelnd antwortete ich ihr auf den Zwischenruf:
„Ich habe dir Getränke bisher immer aus der Flasche zu trinken gegeben. Manchmal kann ich dir auch ein Glas an den Mund führen. Dich aus dem Napf Getränke aufnehmen lassen… Dann würdest du zu wenig Flüssigkeit aufnehmen und mit der Zeit dehydrieren. Das wäre gegen mein Verantwortungsgefühl!“
„Ich habe das aber schon bei anderen gesehen!“
„Ich auch, Gigi. Auf Bildern. Bilder sind oft gestellt. Auf jeden Fall sind es Momentaufnahmen. Siehst du es real, dann kannst du davon ausgehen, dass die Doggie ohne Publikum normal wie ein Mensch trinkt.
Hast du noch weitere Fragen zur Mimik und Gestik?“
„Wenn wir draußen einmal einem echten Hund begegnen, der Gassi geführt wird, was muss ich dann beachten?“
„Komm auf die andere Seite von mir, dass du mich zwischen dir und ihm hast! Meist wird in der Hundeschule gelehrt, dass man den Hund an der linken Hand führt. Dann hast du immer beide Halter zwischen dir und dem anderen Hund bei der Begegnung. Aber es kann ja vorkommen, dass der andere Hund auf dich zukommt, bellt und an der Leine zieht…
Dann heißt es weggucken! Niemals dem anderen Hund direkt in die Augen schauen! Du kannst auch die Leinenlänge ausnutzen, wenn der Weg es zulässt und Abstand schaffen. Auch kannst du dich in Zeitlupe bewegen. Ist der andere Hund auf dich zugesprungen, beuge die Ellenbogen, lege den Kopf auf deine Vorder‚pfoten’ und wende deinen Blick ab.
Hat der andere Hund dich erreicht und bellt weiter: Ruhig bleiben! Er wird allenfalls seinen Kopf auf dich legen wollen. Vielleicht bellt er dich aber auch nur aus, sprungbereit um weg zu kommen, falls du aktiv wirst – Aber ich denke, der andere Halter wird seinen Hund zurückziehen, sofern er ihn in der Gewalt hat.“
„Das Szenario ließe mich vor Schreck erstarren. Ich würde alles vergessen und mit schreckgeweiteten Augen den angreifenden Hund anstarren…“
‚Oh, jetzt muss ich beruhigen, aber nicht das Blaue vom Himmel herunter holen…‘ fährt mir durch den Kopf.
„Hey, GIGI, nicht zittern! *dich über die Wange streichele*
Erstens, der echte Hund, der uns da begegnet und so reagiert, ist verwirrt und will nur sein Herrchen/Frauchen verteidigen. Dazu nutzt er einen SCHEINANGRIFF. Erst in allerletzter Konsequenz würde er beißen. Dann nämlich, wenn du keine Beschwichtigungssignale sendest – und dieses Beißen entpuppt sich bei nüchterner Betrachtung eher als ein Kneifen, als Drohung. NICHT SCHARFGEMACHTE HUNDE sind soziale Wesen! BEISSER werden erst durch den Menschen zum dem, was sie sind!
Zweitens kannst du dich immer hinter mir verstecken! Komm einfach auf meine, dem echten Hund abgewandte Seite und wende dich ebenfalls von ihm ab!“
„Ja, das würde ich dann sicher machen: Abstand gewinnen und auf die andere Seite gehen…“
„Wichtig ist es aber auch dann, ihn nicht verschreckt mit großen Augen ansehen, sondern abwenden, in eine andere Richtung schauen!“
„Okay, Herr, weißt du: Mein Herz klopft ganz wild im Moment…“
„Ach, GIGI. Ich bin bei dir, du gehst nie alleine draußen herum!“
„Und wenn der ANDERE Hund frei herumläuft? Kein Herrchen weit und breit?“
Ich muss wohl tiefer in die Materie einsteigen…
„Du musst einfach ruhig bleiben und Beschwichtigungssignale senden!“ sage ich. „Das ist genauso, als wärst du im Ausland und würdest dich mit einem Menschen dort in seiner Sprache unterhalten; als würdest du dich mit einem Taubstummen mittels Gestik und Mimik unterhalten.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Der fremde Mensch will mich sicher nicht beißen!“
Jetzt muss ich lachen. Ich antworte:
„Hör mal, GIGI: Wenn du dir vor deinem geistigen Auge einen wilden Wolf vorstellst – welches Bild hast du vor Augen?“