Giselle (24)
„Ein Horror! Eine blutrünstige Bestie…“
Hm, die irrationalen menschlichen Urängste…
„Da liegt der Hase im Pfeffer!“ stelle ich fest. „Werwölfe sind Ausgeburten menschlicher Angstphantasien! Echte Wölfe sind scheu. Sie machen einen so großen Bogen um den Menschen, dass er sie so gut wie nie zu Gesicht bekommt. Wenn zufällig doch, dann schauen sie kurz und verschwinden wieder im Gebüsch.
Hunde sind genauso wie Wölfe soziale Wesen, die nach dem Motto leben, ‚Tu mir nichts, dann tu ich dir auch nichts’. Hunde werden erst durch die Erziehung durch den Menschen scharf gemacht.“
„Wie erkennt man aber, ob der streunende Hund scharf gemacht wurde oder nicht?“
„Hunde, die in einem Zwinger gehalten werden oder auf einem mit Maschen- und Stacheldraht umzäunten Grundstück herumlaufen und sich zähnefletschend gegen den Zaun werfen, wenn wir daran vorbeigehen, sind meist scharf. Dieser Gegend muss man sich ja nicht ohne Not nähern. So ein Hund wird uns auch kaum als Streuner draußen begegnen!
Noch einmal: Beherrschst du eine Fremdsprache und du spürst, dass du verstanden wirst, macht es dir zunehmend Spaß, dich in der Fremdsprache zu unterhalten!
Deshalb werde ich jetzt aber nicht hingehen und noch einen echten Hund ins Haus holen, damit du einen Gesprächspartner bekommst! Mir macht es Spaß, dich zu trainieren und das Ergebnis des Trainings im Alltag sehen zu können. Also bei zufälligen Begegnungen mit Hunden sehen zu können, dass du dich zu verständigen weißt. Eigentlich sollst du für mich zur nahezu perfekten Hündin werden, und im Normalfall nicht mit echten Hunden zusammenkommen!“
„Du sagst immer, niemals den anderen Hund anschauen. Das interpretiert das Tier als Aggression…“ stellt Gigi fragend fest. Noch ist für sie das Thema nicht erschöpfend behandelt.
„Ja, denn nur der Ranghöhere darf unter Wölfen und Hunden den Rangniederen mit Blicken fixieren! Alle anderen schauen aneinander vorbei.
Betrachten wir einmal das Kleinrudel Mensch-Hund: Der Mensch sollte für den Hund das Alphatier sein. Doch ist das wirklich immer so?“
„Hm…“ macht sie.
„Szenario Eins: Der bettelnde Hund am Esstisch schafft es, halb verhungert auszusehen, blickt treuherzig in die Augen seines Menschen und wedelt freundlich mit dem Schwanz.“
„Ja, und??“
Gigi runzelt die Stirn.
„Da stimmt etwas mit der Rangordnung nicht!“ sage ich. „Der Hund bettelt nicht, er fordert! Nur für den Menschen sieht es aus, als blicke der Hund ihn treuherzig an. Das direkte Anschauen ist ein Alarmzeichen: Der Hund wähnt sich als Chef!
Zweites Szenario: Der Hund springt sein Herrchen, das gerade nach Hause kommt, freudig an…“
„Er liebt sein Herrchen halt und freut sich, jetzt nicht mehr allein zu sein…“ meint Gigi dazu.
„Das Anspringen ist kein Ausdruck der Zuneigung oder Freude, sondern eine Forderung, sich JETZT SOFORT mit dem Hund zu beschäftigen, Gigi!“ erkläre ich ihr.
„Also wieder Dominanzverhalten?“
Sie schaut mich erstaunt an.
„Das Verhalten kommt aus der Zeit, als der von der Jagd zurückkehrende erwachsene Wolf von den Welpen an der Schnauze angestupst wurde, damit er Fleisch hervor würgt. Beim Menschen ist der entsprechende Körperteil nur so weit oben, dass er eben nur mit Springen zu erreichen ist!“
„Aber das ist doch nichts Schlimmes! Dann würde ich dem Hund sofort etwas zu fressen geben und gut ist…“
„Und über die Jahre bestimmt der Hund, was das Herrchen tut und nicht umgekehrt. Ein Hundehalter darf niemals inkonsequent sein! Das würde der Hund für sich nutzen. Nicht von jetzt auf gleich, aber diese Umkehrung der Rangordnung schleift sich allmählich in die Beziehung ein!“
„Hm…“
„Drittes Szenario: Anstupsen mit der Schnauze oder der Pfote…“
„Ja, und??“
„Das ist ein Überbleibsel aus der Welpenzeit, als der Hund dadurch dafür sorgte, dass die Milchquelle nicht versiegte. Auch der erwachsene Hund verwendet diese Geste, um Forderungen zu stellen. Da der Mensch dieses Verhalten oft als Ausdruck von Zuneigung versteht, bekommt der Hund meist, was er auf diese Weise einfordert. Also wird er es immer wieder tun!“
„Oh…“ macht Gigi nun.
„Viertes Szenario: Die Spielverbeugung. Der Hund legt Oberkörper und Vorderpfoten flach auf den Boden, während das Hinterteil in die Luft zeigt. Damit fordert der Hund nicht nur Artgenossen, sondern auch seine Menschen zum Spielen auf.“
„Aber du hattest doch mal gesagt, das ist eine Beschwichtigungsgeste: ‚Wer mit mir spielt, tut mir nichts…“
Jetzt habe ich sie wohl verwirrt.
„Ja, aber schau dir den Hund ganzheitlich an!“ sage ich. „Was tut er noch? Fixiert er sein Gegenüber oder schaut er woanders hin? Wenn der Hund sein Gegenüber mit Blicken fixiert, ist auch dieses Verhalten ein Alarmzeichen, das mit der Rangordnung etwas nicht stimmen könnte, denn das würde wieder nur das Alphatier des Rudels so tun!
Eben habe ich vom Betteln bei Tisch erzählt: Der Hund wedelt freundlich mit dem Schwanz, aber fixiert dabei sein Gegenüber. So wird aus dem Beruhigungssignal ‚Schwanzwedeln’ eine dominante Forderung.“
„Ah…“
„Und noch dieses Szenario: Kopfauflegen und Aufreiten. Hund und Mensch liegen entspannt auf der Couch. Der Hund legt seine Schnauze auf das Knie des Menschen und schaut ihn ‚treuherzig’ in die Augen. Unter Hunden ist das Kopfauflegen eine Dominanzgeste, die man sich von seinem Hund nicht gefallen lassen sollte - wehret den Anfängen! Sonst setzt man eine Spirale in Gang…
Eine Steigerung dessen ist das Aufreiten. Es ist kein Ausdruck fehlgeleiteter Sexualität eines einzeln gehaltenen Tieres, sondern ebenfalls eine Dominanzgeste: Nur der Rudelführer darf bei einem Rudelmitglied aufreiten!“