Giselle (2)
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Tags darauf melde ich mich wieder im Chat an, richte den privaten Raum DOGS CAGE ein und warte. Es tut sich lange nichts. Immer wieder einmal muss ich mit einer Bewegung der Maus den Bildschirm wieder einschalten. Warten ist doch sehr unbefriedigend!
Es dämmert schon, als sie sich meldet und ich den Raum verschließen kann.
„Hi HRvKESSI. Sorry, ich war noch in der Tierklinik.“
„Hallo GIGI, ah, und wie geht es BOOMER?“
„Überhaupt nicht gut. Mein Kleiner hatte mehrere Rippen gebrochen durch eine stumpfe Verletzung, ein Schlag möglicherweise, wie sich der Doktor ausdrückte. Eine der Rippen hat die Lunge leicht verletzt… :’(“
„Aber wie kann das denn…? o.0
Katzen fallen doch immer auf die Füße, heißt es…“
„Ich habe meinen Freund zur Rede gestellt! Erst sagte er, BOOMER hätte ihn genervt, dann wollte er nichts damit zu tun haben, und dann hat er unter Schimpfen die Wohnung verlassen. Sicher trinkt er sich wieder zu – und das von meinem Geld…“
„Da hört sich gleich doch alles auf! Schmeiß den Kerl raus! Schon allein, dass er dir auf der Tasche liegt…“
„Ich habe meine Sachen gepackt und bin in ein Motel…“
„Aber wie geht es denn nun weiter, GIGI?“
„ :’( Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht! Ist mein Freund nüchtern, ist er der liebste Mensch! Du musst wissen, dass meine Eltern sich scheiden gelassen haben, als ich noch sehr jung war. Mein Erzeuger hat sich nie bei uns blicken gelassen, soweit ich zurückdenken kann.“
„Hm… *drück dich freundschaftlich*“
„In der Pubertät geriet ich in eine Clique, wurde rebellisch und kam ins Heim, weil meine Mum nicht mehr mit mir klarkam. Nun bin ich Marktverkäuferin, weil ich nichts gelernt habe.“
„Ach Möönsch, GIGI… Du wohnst noch mal…?“
„In Düsseldorf.“
„Das liegt nicht gleich um die Ecke, hier vom Hunsrück…“
„Richtig. Du, sei mir nicht böse. Ich brauche einen freien Kopf. Ich gehe erst einmal joggen und lege mich dann schlafen. Bist du morgen wieder on?“
„Aber ja, GIGI!“
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Klar!“
„Was machst du so?“
Ich lächele in mich hinein und antworte umgehend:
„Ich bin Waldläufer.“
„Waldläufer?“
„Ja, ich gehe hier durch einen Privatforst und schaue mir die Bäume an. Diejenigen, die gefällt werden müssen, markiere ich mit einer Sprühdose. Daneben sammele ich Holz, wenn die Erntemaschine da war und die Bäume gefällt hat. Sie entfernt dann ja auch alle Äste von den Stämmen! So habe ich Scheitholz für den Kamin im Winter und Rohmaterial für meine Skulpturen.“
„Skulpturen?“
„Ja, ich schnitze nebenbei Figuren aus dem Holz. Entweder bekomme ich den Auftrag für eine spezielle Skulptur oder ich stelle in einer Galerie im Ort aus und – meist Touris – kaufen sie dort.“
„Ah, interessant!“
„Komm doch einmal hierher und schau dir alles an, GIGI!?“
„Werde ich bestimmt einmal. Bis morgen dann und – Gute Nacht für nachher!“
„Bis morgen – und schlaf später entspannt, GIGI!“
Sie geht aus dem Chat und lässt mich grübelnd zurück. Sie hat es nicht leicht im Leben – und mir fehlt jemand. Ich könnte demnächst doch einmal nach Düsseldorf fahren…

*

In den nächsten Tagen reden wir täglich miteinander. Darüber vergeht ein Wochenende und am Montag sagt sie mir in unserem privaten Chatraum:
„Ich habe heute einen Brief von der Tierklinik bekommen mit der Rechnung. BOOMER musste eingeschläfert werden. Er liegt im Kühlraum und wird erst freigegeben, wenn ich die Rechnung bezahle. Wenn ich ihn einäschern lasse und in der Urne ausgehändigt bekommen will, ist die Gesamtrechnung so hoch, dass ich sie nicht bezahlen kann…“
„Du wohnst immer noch in dem Motel?“
„Ja, das ist ja ein Teil des Problems: Ich zahle diesen Monat zwei Mieten. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“
„Zurück in deine Wohnung möchtest du nicht?“
„Zurück zu dem Kerl, der BOOMER auf dem Gewissen hat? NIEMALS!“
„Wer hat damals den Mietvertrag unterschrieben?“
„Ich.“
„Dein Freund ist nicht Mitmieter?“
„Nein…?“
„Schreib deinem Vermieter einen Brief oder geh dort vorbei und kündige den Vertrag! Dann holst du im Laufe des folgenden Monats allmählich alles aus der Wohnung, was dir gehört und du behalten willst. Ob dein Freund dann in deinen Mietvertrag einsteigt oder auf der Straße landet, kann dir dann ja egal sein. Dann hast du erstmal nur Wohnungsausgaben für eine Wohnung.“
„Aber das Motel kostet doppelt so viel wie die Wohnung!“
„Das ist richtig, aber du sollst ja nicht ewig im Motel wohnen bleiben! Du schlägst damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Einmal sind deine Ausgaben ab dem nächsten Monat geringer, zum Zweiten hast du den Schmarotzer abgeschüttelt. Dann gehst du auf Wohnungssuche. Sobald du eine Neue hast, ziehst du aus dem Motel aus und normalisierst dadurch deine Wohnungsausgaben.“
„Ja, und die Klinikrechnung?“