Sonntag, 1. November 2020
Suìmh Aille -28
Einen guten Monat später ruft der junge Mann an. Er hat die Fähre von Wales genommen und steht auf der Pier in Queenstown, das auf Irisch An Cobh heißt. Er sagt, er findet das Bahnticket nicht, mit dem er nach Killarney hätte fahren sollen. Bradáin informiert Curadh Ciaraì und der Méara bestimmt, dass Dennis Archer, wie der junge Mann heißt, sich ein Zimmer nehmen soll.
Der Méara -Ortsvorsteher/Bürgermeister- lässt sich zwanzig Minuten später den Wirt in An Cobh ans Telefon holen und vereinbart mit dem Mann, dass er die Kosten überweist.
Der Mann ist sofort dazu bereit, als er hört, wer am anderen Ende der Leitung spricht und nennt den Mèara höflich ‚Mo Thiarna‘ -Mylord-.
Am nächsten Morgen hält ein rotes Austin-Cabrio, bestimmt einhundert Jahre alt, vor dem Hostel. Curadh Ciaraì ist die halbe Nacht hindurch gefahren und meldet sich nun bei dem Wirt, mit dem er gestern gesprochen hat. Er zahlt das Zimmer des Jungen und mietet gleichzeitig ein Zimmer für sich, wohin er sich bis zum späten Mittag zurückziehen will.
Als der junge Mann anderthalb Stunden später am Tresen auftaucht, erhält er vom Wirt die Anweisung, sich für zwei bis drei Stunden im Ort ‚die Füße zu vertreten‘. Danach gäbe es einen schon bezahlten Brunch und anschließend könne Dennis mit dem Herrn der Grafschaft Kerry abreisen. Der junge Mann macht große Augen und ist so aufgeregt, dass er viel zu früh wieder im Hostel auftaucht. Der Wirt schickt ihn grinsend auf eine weitere Runde in den Ort.
Allmählich kommt Dennis innerlich zur Ruhe und kann genießen, was sich ihm hier bietet. Das Städtchen liegt an einem der größten Naturhäfen Irlands im Mittel auf 47 Meter über dem Meeresspiegel. Wegen der geologischen Besonderheiten gibt es hier einige sehr steile Straßen. Die Einwohner haben zahlreiche Häuser grellbunt gestrichen.
Als Dennis das zweite Mal im Hostel auftaucht, schickt ihn der Wirt an einen Tisch, an dem schon ein einzelner Mann sitzt. Der Mann ist traditionell irisch gekleidet, während Dennis den lässigen Kleidungsstil der Jugend trägt.
Der Mann lächelt Dennis aufmunternd zu und deutet auf den Sitzplatz ihm gegenüber. Nachdem Dennis sitzt, sagt er:
„Hi Dennis, der bist du doch?“
Dennis nickt kurz.
„Okay, dann ess‘ dich satt. Wir haben noch eine weite Fahrt vor uns, nach Suìmh Aille!“
Zögernd beginnt Dennis, sich am Brunch zu bedienen. Nach einer Weile fragt er den fremden Mann ihm gegenüber:
„Sie sind der Lord of Kerry?“
Der Mann nickt lächelnd und bestätigt Dennis, was der Wirt ihm schon gesagt hat.
„Ja, der bin ich.“
„Wow,“ macht Dennis daraufhin.
Er schaut den Mann ihm gegenüber fast ehrfürchtig an. Das lässt den Mann zwinkern. Er fragt:
„Du hast noch nie einen leibhaftigen Lord gesehen? Was stellst du dir denn unter einem Lord vor?“
Dennis wiegt den Kopf.
„Na ja, er wohnt in einem Schloss und hat viele Angestellte, die alle tun, was er sagt…“
„… außerdem ist ein Lord reich, weil er sonst nicht in einem Schloss wohnen und die vielen Angestellten bezahlen könnte?“ ergänzt Iarla Eamon Ciaraì die Vorstellungen des jungen Mannes mit einer Frage.
„Ja, so ist es doch?“ fragt Dennis und schaut sein Gegenüber zweifelnd an.
„Dennis, das Schloss oder Landhaus und der dazugehörende Park gehört heute meist dem Staat. Der Lord zahlt dafür eine hohe Miete. Die Zahl der Angestellten hält sich deshalb in Grenzen. Der Unterhalt des Bauwerks kostet viel Geld. Da sind kreative Lösungen gefragt. Mein Landhaus, zum Beispiel, habe ich zum Gästehaus umfunktioniert. Dort kann man gut essen und wohnen – und sich wie ein Lord fühlen. Man kann durch den weitläufigen Park spazieren und ein Automuseum besuchen. Heiratswillige können dort feiern. All diese Leistungen bringen das Geld herein, das ich brauche, um die Kosten für Teach Tuaithe Ciaraì -Landhaus Kerry- und Suìmh Aille -Klippenort- zu stemmen.“
„Stimmt,“ antwortet Dennis. „Suìmh Aille ist ja mein Ziel… Sie trainieren dort Petplayer auf Hund?“
Der junge Mann redet gerade heraus. Iarla Ciaraì geht darauf ein und schüttelt leicht den Kopf.
„Inzwischen hat die Schule einen Curadh, der das für mich macht. Ich bin der Méara -Ortsvorsteher/Bürgermeister- und habe die Organisation in meinen Händen. – Aber komm, wir können auch während der Fahrt reden. Wir sollten langsam losfahren!“
In der frühen Nacht erreichen sie Suìmh Aille. Curadh Ciaraì bringt Dennis mit seinem Rucksack zu Curadh Riagáin. Sein Sohn Finn zeigt dem Neuankömmling die Zwinger im Obergeschoss und schließt einen für Dennis auf.
Hinter Dennis verschließt er den Zwinger wieder und sagt:
„Ich lasse die Lampen gedimmt. So findest du in der Nacht die Toilette, falls das nötig werden sollte. Gute Nacht.“

*

Am Morgen des darauffolgenden Tages werde ich in einem geräumigen Käfig wach. Ich schätze seine Ausmaße auf etwa drei mal zwei Meter. Seitlich vorne habe ich auf einer Futon-Matratze unter einer warmen Decke auf dem Boden geschlafen. Neben der Matratze liegt ein Schaffell und im Hintergrund unter der gewölbten Außenwand aus Naturstein befindet sich die Toilette.
Mich hat das schleifende Geräusch geweckt, als jemand eine Schale unter den Stäben hindurch ins Innere schiebt. Etwas mehr als zwei Fuß darüber befestigt der junge Mann eine Trinkflasche an den Stäben. Dann grüßt er lächelnd und lässt mich wieder allein.
Ich bleibe noch eine Weile unter der Decke liegen. Schließlich schaue ich doch, was man mir zum Frühstück hereingeschoben hat. Erfreut stelle ich fest, dass es sich nicht von einem normalen Essen unterscheidet. Natürlich ist es kein Porridge. Es ist eher vergleichbar mit dem Mittagessen gestern in Queenstown, nur dass es in kleine Häppchen zerteilt worden ist. Ich setze mich also auf die Matratze, die Beine abgewinkelt und angele das ‚Fingerfood‘ mit den Fingern aus der Schale. Zum Trinken zwischendurch nehme ich die Flasche aus der Halterung und stelle sie neben die Schale.