Dienstag, 1. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 03
Nun fordert mich Mateo auf ihm zu folgen. Er führt mich die ‚Treppe‘ hinab und zum Strand hinunter. Dabei kann ich sehen, dass das Vaka mit dem ich auf die Insel gekommen bin, inzwischen neben dem Anderen unter dem Versammlungshaus seinen Platz gefunden hat. Der Abend dämmert, was in diesen Breiten schon gegen 18 Uhr passiert. Ich kann einen grandiosen Sonnenuntergang am Strand erleben.
Der Kahuna und sein älterer Sohn, der Steuermann, kommen hinzu. Bald finden sich noch mehr junge Männer ein. Dann, als es dunkel geworden ist und die Hetu‘u –Sterne- sichtbar sind, beginnt der Kahuna seine Unterweisung in traditioneller Sternennavigation. Dann fragt er die anwesenden jungen Männer ab. Er kontrolliert so, was sie von der letzten Unterrichtseinheit im Gedächtnis haben. Da hat er ihnen etwas über den Sonnenstand, Wind- und Strömungsrichtungen erzählt, wie mir Mateo leise erklärt.
Als wir dann im Fale Pae‘nga zurück sind, zeigt mir Mateo meinen Schlafplatz in einer Hängematte. Außer den Poki tane –Jungs- aus der Familie des Kuia sind keine weiteren Männer anwesend. Etwas befremdet denke ich:
‚Mateo sagte heute doch, die Familie des Kuia wohnt im Fale Pae’nga –Versammlungshaus-. Nun sind nur die jüngsten Söhne anwesend; diejenigen, die wohl den Mannbarkeitsritus noch nicht vollzogen haben. Auch die Frauen und Töchter des Kuia und seine älteren Söhne habe ich noch nicht gesehen… Sie sind für mich mit einem Tabu belegt? Dann muss der Kuia noch ein oder mehrere Privathäuser am Waldrand haben…‘
Darüber schlafe ich ein.

*

An den darauffolgenden Tagen nehme ich regelmäßig an den Unterweisungen des Kahuna teil. In der Zeit dazwischen, die nicht mit Essen und Schlafen ausgefüllt ist, schwimme und tauche ich mit Mateo im Bereich zwischen Strand und Riff. Er zeigt mir die Vielfalt der Unterwasserfauna und –flora, was mir einmal den Ausspruch entlockt, dass man das Ökosystem unbedingt erhalten muss.
„An uns liegt das nicht,“ meint er. „Wir entnehmen der Natur nur das, was wir unmittelbar brauchen. Mein Vater hat mir erzählt, dass das bei euch Haole –Weißen, Europäer- anders ist. Ihr treibt Raubbau an der Natur, nur um damit in der Zukunft ein Vermögen zu erwerben. Mit dem erworbenen Vermögen vergiftet ihr den Rest der Natur. Schließlich sägt ihr damit doch den Miro –Baum- ab, auf dem ihr sitzt. Wenn es aber das allein wäre, würde es uns kaum berühren. Aber da ihr Mutter Erde erkranken lasst, sind auch wir davon betroffen. Und das macht mich innerlich wütend!“
Ich schaue Mateo traurig an und gebe zu bedenken:
„Meist sind es die großen Konzerne mit ihrem Gewinnstreben. Natürlich gibt es auch Millionen Einzelne, die nicht darüber nachdenken, was sie tun. Aber es werden immer mehr bei uns, die ihre Stimme zum Schutz von Mutter Natur erheben. Ich gehöre auch dazu!
Kannst du mir etwas über euer Verständnis der Zusammenhänge in der Natur erzählen?“
„Unsere Welt ist komplexer als das was du siehst. Es gibt die sichtbare und die unsichtbare Welt. Beide stehen über das Mana –die spirituelle Kraft- in ständiger Wechselbeziehung. Unsere Welt unterteilt sich in die Unterwelt, wo sich die Dämonen der Nacht aufhalten, die uns meist in unseren Träumen ängstigen, und die uns krank machen können. Darüber befindet sich die Mittelwelt. Das ist die sichtbare Welt mit all ihren tierischen und pflanzlichen Geschöpfen, zu der auch wir selbst gehören. Darüber schließlich liegt die Oberwelt, die von den guten Mächten und Göttern bevölkert ist. Aus der Oberwelt besuchen uns immer wieder die Kiai –Schutzgötter-, um ein Gleichgewicht herzustellen gegen die Dämonen der Nacht. Hina, die Mondgöttin, wacht über allem.“
„Und wenn wir nun unseren Blick nur auf die Mittelwelt richten, weil nur sie für uns sichtbar ist. Es gibt gefährliche, aggressive und giftige Geschöpfe in der Natur, genauso wie es harmlose gibt. Daneben gibt es auch Geschöpfe, meist aus dem Pflanzenreich, die uns heilen können. Das Wissen darüber haben die Heiler, nehme ich an,“ versuche ich das Diesseits näher zu beleuchten.
„Ja, wenn ein Mensch etwas Schlechtes geplant oder sogar schon ausgeführt hat, öffnet er damit ein Tor zur Unterwelt. Aber auch ein unachtsamer Mensch kann Kontakt zu einem Dämon bekommen. Hier weiß dann der Heiler Rat. Um auf langen Seereisen gewappnet zu sein, führt der Heiler einen Zauber durch und gibt uns einige bestimmt Pflanzen mit. Der Kahuna hat sie mir schon gezeigt. Aber pflücken darf man sie nicht!“
„Das ist interessant,“ bin ich sofort Feuer und Flamme, „kannst du mir einige dieser Heilpflanzen zeigen?“
„Gerne, aber du darfst sie nicht pflücken, bevor du nicht wirklich zu einer langen Seereise aufbrichst! Sie verlieren sonst ihre Wirkung.“
Wir gehen ein Stück über den Strand und erreichen eine kleine Hütte mit mehreren Ausleger-Einbäumen. Er zieht einen davon hervor. Ich helfe ihm, das kleine Boot zum Wasser zu bringen. Es hat keine Takelage, sondern in seinem Inneren liegen zwei Stechpaddel. Damit paddeln wir etwa eine Stunde bis wir einen felsigen Einschnitt erreichen.
Mateo lenkt den Einbaum hinein. Nach wir etwa einer halben Stunde gegen die Strömung an gepaddelt sind erreichen wir einen Felstopf. Auf einer Seite stürzt ein Wasserfall eine Felswand hinunter. Auf der anderen Seite liegen kleine Felsen und die Vegetation reicht bis zum Wasser. Er bedeutet mir auszusteigen und den Einbaum gemeinsam mit ihm aus dem Wasser zu ziehen. Dann folge ich ihm vorsichtig weg vom Wasser in die dichter werdende Vegetation hinein.
Plötzlich stößt er einen Ruf der Überraschung aus und bleibt stehen. Etwas Dunkelhäutiges fällt – oder springt? – vor uns von einem Ast und ist gleich darauf von der grünen Bodenvegetation verschluckt. Überrascht schaue ich hoch ins Geäst, wo das Geschöpf hergekommen sein muss. Etwas abseits davon sehe ich eine zweite Gestalt zitternd mit angezogenen Beinen auf einem annähernd waagerechten Ast liegen, die Vorderbeine rechts und links herabhängen lassend. Den Kopf kann ich nicht sehen. Die Gestalt hat sich von uns abgewandt und stellt sich tot.
Von dort, wo das eine Geschöpf in der Bodenvegetation verschwunden ist, höre ich stöhnende Laute. Ich schaue Mateo an. Sein Gesicht zeigt Furcht.
„Ich habe ein Tabu verletzt,“ murmelt er. „Ich habe große Schuld auf mich geladen!“
„Das Tier vor uns scheint verletzt zu sein!“ versuche ich ihn in die Realität zurück zu holen. „Wir sollten versuchen zu helfen!“
„Wir müssen den Wald verlassen! Die Dämonen der Nacht haben wegen meinem Fehlverhalten einer Wahine ein Leid angetan!“