Freitag, 18. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 20
Der Junge schaut den Kahuna Zustimmung suchend an. Dieser nickt und bestätigt meinen Rat. Nach dem dritten Wechsel, als ich nun acht Wahine die Spielverbeugung beigebracht und das unbeschwerte Spiel mit der Nuss durch LELE und RAKA‘U gezeigt habe, äußert sich der Poki tane erstaunt:
„Die Wahine haben das Spiel entdeckt! Sie liegen nicht mehr stumpf und voller Angst herum. Wir mussten sogar noch zwei weitere Nüsse ins Gehege tun…“
Ich lächele und sage zum Kahuna:
„Ich denke, die anderen Wahine bekommen ihre Unterweisung von denen, die mit LELE und RAKA‘U gespielt haben. Sie gehen aus sich heraus und zeigen über die Geste, was sie wollen. Damit wäre mein heutiger Unterricht beendet.“
Ich bleibe noch ein wenig zum Smalltalk sitzen. LELE und RAKA‘U liegen wieder an meinen Seiten, ihre Köpfe auf meinen Oberschenkeln gebettet. Dann verabschiede ich mich bis zum nächsten Nachmittag.
Am darauffolgenden Tag lasse ich alle Poki tane zur Besprechung hinzuziehen. Beim unvermeidlichen Kawa kawa erzählen sie mir, wie sich die Wahine im Gehege miteinander beschäftigen. Denn es freut mich vom Kahuna nach der Begrüßung zu hören, dass die Frauen nicht mehr stumpf in einer Ecke hocken und darauf warten, dass ein Mann sie zu sich holt. Das Ballspiel hat die Wahine aktiviert. Es lenkt sie von ihrer Situation ab. Dazu kommt, dass das Ballspiel die Wahine ermuntert aus sich heraus zu gehen, mit einander zu kommunizieren. Auch wenn die Kommunikation über Gestik und Mimik verläuft, bedingt durch das Leben im Wald, wo es wichtig ist nicht aufzufallen. Nur selten lassen sie einen Ton hören, um eine andere Frau herbei zu rufen.
Ich beauftrage die Poki tane des Kahuna, darauf zu achten, wann welche Geste verwendet wird, damit sie wissen, was die Wahine gerade sagen will oder wie sie sich fühlt. Dieses Wissen sollen sie im Umgang mit den Wahine gebrauchen und auch den Tangata beibringen, die sich für eine der Wahine entscheiden. Auch sollen sie den Tangata einschärfen, die Wahine nicht mehr in den Wald zu entlassen, sondern stattdessen an die Schule zurück zu geben.
Während in unserer westlichen Kultur das Streben nach Glück sehr materialistisch daherkommt und sehr egoistische Züge trägt, sind die Inselmenschen hier nach meinen bisherigen Erfahrungen auf den Zusammenhalt ausgerichtet, auch wenn sich zwei Parallelgesellschaften auf engstem Raum etabliert haben.
Da ist zum Einen die Männergesellschaft, streng hierarchisch aufgebaut: Ab der Pubertät, die mit einem Initiationsritus gefeiert wird, steigt der junge Mann in siebzehn Stufen vom Stammesmitglied zum Kahuna –Experte/Weiser-, und schließlich zum Kuia –Stammesältesten- auf. Für diese Stufen muss er einmal Kenntnisse erwerben, die sein Überleben sichern und die er in den Dienst des Stammes stellen kann, zum Anderen muss er der Gesamtheit der Männer einen Dienst erweisen und sich damit einen höheren Titel erkaufen. Dadurch lernt er, dass der Einzelne nur als Mitglied einer Gruppe in der Natur bestehen kann.
Die Frauengesellschaft ist nicht so strukturiert. Aber das Leben im Wald lehrt sie, dass sie auf einander achten müssen. Sie streifen in kleinen Gruppen zwischen zwei und einem halben Dutzend Individuen durch den Wald. Immer von einer erfahrenen Wahine geleitet. Egoismus hat sich bei den Inselmenschen nicht ausbilden können. Das ist einer der Gründe, die mich auf der Insel festhalten.
Gegenüber den Menschen im westlichen Kulturkreis scheinen die Inselmenschen, bei denen ich hier lebe, sensibler auf die Einflüsse des Alltags zu reagieren. Das soll nicht heißen, dass es unter den Europäern keine hochsensiblen Personen gibt. Genauso wenig bedeutet meine Aussage, dass alle Iwipapa hochsensibel wären. Hier wie da gibt es individuelle Unterschiede. Aber der Prozentsatz hier überwiegt eindeutig. Sicherlich bedingt durch die Lebensweise in und mit der Natur.
Es ist für mich zum Beispiel eine Bereicherung, mit LELE und RAKA‘U zusammen zu leben. Sie reagieren viel stärker als ich auf Umweltreize und können mich oft vorwarnen. Daneben haben sie mein Programm des Kommandotrainings „wie ein Schwamm“ aufgenommen. Sie können Stimmungen schneller erkennen, sind aber auch leichter von den Stimmungen anderer Menschen beeinflussbar. Ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis zeichnet sie aus. Wenn all das auch auf die anderen Wahine zutrifft, habe ich mir gedacht, dann ergänzen sich Tangata und Wahine –Männer und Frauen- gegenseitig. Man muss sie nur dauerhaft zusammenbringen.

*

An den Nachmittagen der folgenden Wochen bringe ich den Wahine der Schule die Kommandos bei, die auch LELE und RAKA‘U inzwischen kennen. Motiviert werden sie durch Lob und Belohnung. Das ist neu für den Kahuna und seine Poki tane. Umso erstaunter sind sie, dass die Wahine ausnahmslos anschmiegsam werden. Jede Ängstlichkeit ist verschwunden. Es gibt keine Fluchtversuche mehr. Ja, es ist sogar leichter Übermut bei den Wahine festzustellen.
Klar, nun haben es die Poki tane schwerer eine gewisse Disziplin aufrecht zu erhalten. Die Wahine brauchen stets etwas, das ihre Neugier befriedigt. Langeweile darf nicht aufkommen, sonst spüren es die Poki tane. Ich glaube aber, dass das den Poki tane gut tut. Ihr Intellekt ist gefordert. Sie müssen sich ständig neue Beschäftigungen für die Wahine ausdenken. Schließlich sind es fühlende Lebewesen mit Charakter und Persönlichkeit, die sich nun entwickeln kann.
Vorher ist die große Mehrheit der Wahine gehemmt gewesen und negative Gefühle haben vorgeherrscht. Seit die Poki tane unter meiner Anleitung ihre Wahine unterweisen, sind sie kontaktfreudiger gegenüber Tangata geworden und ihre nonverbale Kommunikation, ihre Gestik und Mimik, ist reichhaltiger. Das was sie vorher gehemmt hat im Umgang mit Tangata, können sie nun zu ihrem Vorteil nutzen: nämlich, dass sich das Verhalten der Poki tane ihnen gegenüber geändert hat und sie offener geworden sind. Ihre Sinnlichkeit tritt dadurch jetzt stärker zu Tage. Sie versetzen sich emotional in die Tangata hinein.
Genau das macht es mir schwer gegenüber LELE und RAKA‘U dominant aufzutreten. Da ich aber die Verantwortung für meine Wahine trage, darf ich die Führung nicht aus der Hand geben. Das wiederum auf die anderen Wahine übertragen erzeugt ein Spannungsfeld, das beiden, Tangata wie Wahine, im Alltag gut tut. Es ermöglicht sehr enge zwischenmenschliche Beziehungen, die den Tangata bisher fremd waren.
Auch dem Kahuna bleibt die Wandlung in seiner Schule nicht verborgen.
Eines Tages fragt er mich:
„Behältst du deine Wahine eigentlich auch in einem Gehege? Ich habe mir sagen lassen, dass beim Bau deines Fale ein Gehege nicht vorgesehen war…“
„Ja,“ erwidere ich. Ich habe für die Nächte Hängematten im Giebel – auch für die Wahine. Tagsüber laufen sie frei im Fale herum. Wenn ich mich gerade nicht mit ihnen beschäftigen kann, beschäftigen sie sich gegenseitig. Ist die Hängebrücke gespannt, können sie auch selbständig im Wald um das Fale herumstreifen.“