Dienstag, 8. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 10
Da es die Frauen des Feindes sind haben ihre Vorfahren die Frauen behandelt, als wären es Mitglieder der Inselfauna. Sie haben die Frauen auf der Insel im Wald ausgesetzt. Von ihr zu fliehen, haben sie den Frauen unmöglich gemacht. Auf speziellen Jagdzügen hat man einzelne Frauen hin und wieder eingefangen, um Nachkommen zu zeugen. Die männlichen Nachkommen haben die Männer aufgezogen. Sie sind vom Säuglingsalter an Mitglieder der Männergesellschaft. Die weiblichen Nachkommen hat man nach dem Säuglingsalter wieder in den Wald zurückgebracht, wo sich die Frauen ihrer angenommen haben.
Später ist man dazu übergegangen, die Frauen bei sich zu behalten. Aber man hat ihnen gezeigt, dass man in ihnen weiterhin Geschöpfe des Waldes sieht. Hier hat sich eine kleine Diskussion zwischen Mateo und mir entsponnen. Es ist für mich halt schwer, in die Gedankenwelt der Iwipapa Eingang zu finden.
Für die Iwipapa ist die sie umgebende Natur beseelt und damit schützenswert. Alles wird vom Mana, der spirituellen Kraft durchdrungen. So kommt es, dass man sich jedesmal entschuldigt, wenn man eine Pflanze erntet oder ein Tier tötet. Die Kiai –Schutzgötter- müssen besänftigt werden. So würden sie auch verletzte Tiere nach Möglichkeit immer gesund pflegen, da sie sich mit ihnen auf der gleichen Stufe stehend wähnen. Ein Raubbau an der Natur ist für sie der größte Frevel, den sie kennen.
Bald genehmigt man mir in der Ratsversammlung ein eigenes Fale –Haus-. Dazu wird im Wald eine Stelle vom Unterholz befreit, wo kein Baumriese bei seinem Tod hineinstürzen kann. Es ist eine Felsspalte im Hang, groß genug ein Haus und einen kleinen Garten aufzunehmen.
Die jungen Männer des Stammes arbeiten zusammen und schnell steht das Fale, traditionell auf Pfählen errichtet. Ich lasse eine Hängebrücke errichten und an den Rand der Felsspalte führen, als ich sehe, dass man auch im Inneren meiner Hütte ein Gehege mit Flechtwerk aufbaut. Die Hängebrücke kann über Nacht an das Fale angelehnt werden.
Im Inneren des Fale richte ich nun meine Privaträume und die Schreibschule ein, für die ich den größten Raum vorsehe.
Eines Tages berichtet einer meiner Schüler, dass ich mich in zwei Tagen im Fale Pae‘nga einfinden soll. Ich gebe den Schülern für diesen Tag also frei, denn ich weiß, dass solche Einladungen im Allgemeinen einige Stunden dauern.
Als ich mich beim Kuia einfinde ist dort ein weiterer Mann anwesend. Ich erkenne in ihm den Mann, dem ich vor über einem Jahr die verletzte Wahine –Frau- gebracht habe. Durch diese Aktion bin ich nun ein Iwipapa geworden, denn ich habe damals das Tabu gebrochen, den Wald zu betreten. Dennoch, ich muss sagen, dass mir das Leben bei dem Stamm besser gefällt als der Alltagsstress in der sogenannten Zivilisation. Eins vermisse ich allerdings schmerzlich! Ich habe seit Monaten keine Frau mehr gehabt…
Der Kuia lässt Kawa kawa servieren. Ich nippe vorsichtig an dem Becher aus Bambus und merke erleichtert, dass das braune Getränk mit Wasser verdünnt ist.
„Du bist inzwischen ein vollwertiges Mitglied unseres Stammes geworden,“ beginnt der Kuia. „Aus einem Haole –Weißer, Europäer-, der schicksalhaft unser Manuhiri –Gast- wurde, hat sich ein vom ganzen Stamm geachteter Mann entwickelt. Dein Verdienst ist es, dass wir unsere Geschichte, unsere Kultur für immer bewahren können.“
Er macht eine längere Pause, während der wir uns stumm gegenübersitzen und Kawa kawa trinken. Ungefragt das Wort zu erheben wäre unhöflich, also harre ich der die Dinge, die da noch kommen.
Der Kuia blickt den anderen Mann nach einer Weile an. Daraufhin erhebt dieser das Wort.
„Echtes Mitglied der Iwipapa bist du erst, wenn du dir eine Wahine –Frau- nimmst und Söhne und Töchter bekommst. Darum hat die Hui –Versammlung- entschieden, dass du eine Wahine bekommen sollst.“
„Darf ich mir eine Wahine erwählen?“ frage ich und schaue meine Gegenüber nacheinander an.
Der Kuia lächelt. Er weist auf seinen Nebenmann.
„Dieser Mann führt eine Schule für Wahine. Du hast ihm vor einigen Monden eine Wahine übergeben, damit sie in seiner Obhut ihre Verletzung ausheilen kann. Nach zwei Monden hat er sie wieder in den Wald entlassen können. Sie wird jedoch regelmäßig in der Nähe seines Hauses angetroffen, wo sie still beobachtet als warte sie auf etwas oder irgendwen. Dabei ist sie stets in Begleitung einer Tamahine, die sich ihr angeschlossen hat um von ihr das Überleben im Wald zu erlernen…“
Der Nebenmann nickt lächelnd. Wieder entsteht eine längere Pause. Ein Poki tane füllt unsere Becher mit Kawa kawa nach.
„Wenn du diese Wahine also nicht für völlig abstoßend hältst, würde ich dir raten diesem Mann hier in naher Zukunft einen Besuch abzustatten,“ meint der Kuia nun in väterlichem Ton.
Er nickt mir zu und da sich beide Männer nun erheben, stehe auch ich auf. Die Korero –Besprechung- ist damit scheinbar beendet. Ich verabschiede mich herzlich von den Männern und gehe nachdenklich nachhause.
Die wenigen Frauen auf der Insel, die ich bisher zu Gesicht bekommen habe, haben ein gewisses Etwas. Die Sehnsucht nach der Südsee steigt in mir auf, sobald ich mir in Gedanken eine Polynesierin vorstelle. Ganz klar sind diese Gedankenbilder vom französischen Maler Paul Gauguin inspiriert, der lange Zeit auf Tahiti gelebt hat. Die Wahine, die ich damals versorgt habe, stand diesem Bild in meinem Kopf in nichts nach.
Kurz entschlossen drehe ich um und gehe zum Strand zurück. Im Hause des Kahuna treffe ich Mateo, seinen Sohn, und frage ihn, ob er mich zu dem Mann bringen kann, der die Schule für Wahine führt. Ich selbst hätte mich im Wald sicher heillos verirrt. Mit Erlaubnis des Kahuna führt mich Mateo zu dem Fale –Haus- des Mannes.
Es ist Spätnachmittag als wir dort eintreffen. Den Regeln der Gastfreundschaft entsprechend bietet der Hausherr uns an, bei ihm die Nacht zu verbringen. Dazu gehört das abendliche Essen, das zu Ehren der Gäste üppiger ausfällt als gewöhnlich.
Ungewöhnlich ist auch, dass der Mann das Essen an einem Feuer vor der Hütte servieren lässt.
Während wir uns beim Essen über mein Thema, das Aufschreiben der Geschichte und Mythen des Stammes unterhalten, das ihn sehr zu interessieren scheint, stupst mich plötzlich etwas von hinten an.
Ich drehe mich im Sitzen halb um, weil ich denke, einer der Poki tane des Hausherrn möchte nachschenken und blicke in ein bekanntes Gesicht nahe dem Meinen. Die Frau, der ich vor etwa einem Jahr geholfen habe und die seit ihrer Genesung immer wieder die Nähe dieses Hauses gesichtet worden ist, steht auf allen Vieren hinter mir. Ihre Oberschenkelmuskulatur zuckt, als wäre sie zur sofortigen Flucht bereit.