Samstag, 19. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 21
„Und sie blieben nicht einmal mehrere Tage im Wald? Du hast sie nie gesucht?“
Er zeigt einen erstaunten Gesichtsausdruck. Ich lächele wissend.
„Nein,“ sage ich. „Zu den Essenszeiten sind sie immer anwesend. So ergibt sich immer ein Zusammentreffen, an dem es mir möglich ist, per Kommando in ihren Tagesablauf einzugreifen und die Führung zu übernehmen. Sie sind sofort neugierig, was folgt, und lassen sich ohne weiteres führen.“
„Das ist erstaunlich…“ resümiert der Kahuna.
„Wenn du deine Wahine als geschult weitergibst,“ versuche ich einen Vorstoß, „dann nicht allein zum Zwecke der Fortpflanzung und zum Säugen des Nachwuchses! Biete sie als Hausgenossen an, die das tägliche Leben bereichern. Wer sich mit dem Gedanken nicht anfreunden kann, der soll erst einmal leer ausgehen. So können die Iwipapa beobachten, wie schön das Leben ist, zusammen mit den ‚Weibchen ihrer eigenen Art‘. Das ändert die Denkweise der Tangata. ‚Beispiel macht Schule‘.“
„Das sind alles Idealvorstellungen. Bei dir funktioniert es zufällig – oder auch, weil du von außerhalb zu uns kamst!“
Der Kahuna hat eine steile Falte auf der Stirn. Ich lächele ihn freundlich an.
„Ich habe wohl eine andere Erziehung genossen als ihr. Ich komme sicher aus einem anderen Kulturraum. Aber ich habe eure Lebensweise berücksichtigt. Ich will euch nicht meine frühere Lebensweise ans Herz legen. Dass ihr eure Kultur beibehaltet ist mir wichtig! Vielleicht funktioniert das Zusammenleben mit LELE und RAKA‘U deshalb so gut. Die Beiden wären bestimmt nicht mit der westlichen Lebensweise zurechtgekommen und wären wieder in den Wald zurück gegangen.“
„Hm, und wie kann man die Wahine dazu bewegen im Haus zu bleiben? Wie kann man sie frei laufen lassen, ohne dass sie sich trennen und ihr Leben im Wald wieder aufnehmen?“
„Versuche sie nicht zu beherrschen! Stattdessen gewinne ihr Vertrauen und Zuneigung. Gib ihr Sicherheit und Geborgenheit, das Gefühl beschützt zu werden. Sie soll nicht das Spielzeug deiner Lust sein, sondern zeige ihr, dass du sie als Lebewesen mit Gefühlen siehst. Achte ihre Gefühle und respektiere ihren Charakter! Ich weiß, das ist nicht einfach, aber es verspricht Erfolg.“
„Aber vieles schleift sich im Alltag ab. Komme ich nur zum Zweck der Fortpflanzung zu ihr und sehe in ihr das Objekt meiner Lust, dann sind Höhenflüge der Gefühle möglich. Wird das Zusammensein zur Normalität, stumpft man ab. Darum entlassen die Tangata die Wahine in den Wald. Der Jagdtrieb wird geweckt und am Ende erfolgt die Vereinigung in Extase.“
„An dieser Einstellung ist auch nichts Falsches! Du siehst aber, dass die Wahine Sicherheit und Geborgenheit ebenso mögen. Extatisches Beisammensein kann man erhalten, wenn man einige Regeln beachtet…“ versuche ich ihn zu überzeugen.
„Und die wären?“ fragt der Kahuna zurück.
„Seid sensibel für eine Reihe negativer Einflüsse auf das Beisammensein im Alltag. Zum Beispiel, wenn Tangata und Wahine sich des Anderen nicht mehr bewusst sind, also wenn dem Einen die Andere egal zu werden beginnt. Auch kann im Alltag ein unstillbares Verlangen nach mehr entstehen, wenn uns die Andere also nicht mehr genug ist. Dann kann das Mitgefühl für die Wahine schwinden und einer gewissen Selbstsucht Raum geben. Auch kann Angst vor der Vergänglichkeit aufkommen, vor dem Ende des Mitgefühls des Anderen. Ein weiterer negativer Einfluss auf die Verbindung zwischen Tangata und Wahine ist es, wenn das Beisammensein nicht mehr vorrangig durch Gefühle bestimmt wird, sondern das Körperliche überhandnimmt.“
„Ah,“ unterbricht der Kahuna meinen Vortrag, „das ist es, was du mit deinen Wahine anders machst als wir bisher. Du meinst, bei uns bestimmt zu sehr das Körperliche unsere Beziehung zu den Wahine.“
„Mach einmal den Versuch, die Gefühle in den Vordergrund zu stellen,“ entgegne ich ihm kopfnickend. „Das Körperliche hat wohl seine Daseinsberechtigung, aber es sollte nicht alles darauf ausgerichtet sein! Es ist die schönste NEBENSACHE der Mittelwelt!“
Mit dem letzten Begriff spiele ich auf ihre Mythologie an und versuche eine Verbindung zu schaffen in ihre Gedankenwelt.
„Aber da ist noch etwas, das sicher mehr für die westliche Kultur gilt: Ein weiterer negativer Einfluss auf das Zusammensein von Tangata und Wahine ist, nur noch zu glauben, was man sieht. Wenn also die Logik mehr Raum bekommt als die Emotionalität. Schließlich noch die Besserwisserei, also die verblendete Selbstüberzeugung, der Fanatismus. Man darf seine Ansichten nicht als alleingültig hinstellen!“
„Hm, aber ist es nicht gerade letzteres, was du hier versuchst?“
„Wenn ich mich hinstelle und sage, ihr müsst… ihr dürft ab jetzt nur noch… und so weiter, und harte Strafen androhe, also ein Regime der Angst errichte – dann hast du Recht! Aber ich sage: Schaut, wie ich es mit meinen Wahine mache. Schaut, wie sie darauf reagieren. Versucht es selbst auch einmal.
Ich unterbreite Vorschläge, gebe Beispiel, bin gesprächsbereit, unterstütze Kompromisse…“
„Okay, ich werde darüber nachdenken,“ sagt er und erhebt sich.
Damit ist der heutige Nachmittag beendet. Der Kahuna begleitet mich zum Eingang seines Fale und steigt mit mir die Treppe hinunter. Ich trage LELE die in den Baumstamm geschlagenen Stufen hinunter. Der Kahuna bückt sich und hebt RAKA‘U auf seine Arme, um sie mir hinterher zu tragen. Sie lässt es geschehen, was mir zeigt, dass sie mit diesem Fale und seinem Bewohnern schon sehr vertraut ist. Unten lässt der Kahuna RAKA‘U auf den Boden herab und wir verabschieden uns noch einmal, indem wir uns gegenseitig an den Unterarmen fassen.
Während der nächsten Nachmittage sehe ich zwei der Wahine frei im Haus herum laufen bis auf die Zeiten der Unterweisung. Auch die sechs Poki tane haben jeder eine Wahine, die kaum von ihrer Seite weicht. Nur die restlichen Fünf bleiben noch rund um die Uhr im Gehege. Ich muss schmunzeln. Dass der Kahuna zwei Wahine aus dem Gehege für sich ausgewählt hat, muss für ihn wohl eine Art Statussymbol sein, das ihn von seinen Poki tane abhebt.
LELE und RAKA‘U behandele ich dagegen stets wie Mutter und Tochter. Ich bin mit beiden zärtlich, wenn ich denke, dass sie Zuwendung brauchen. Jedoch werde ich nur mit LELE intim. RAKA‘U scheint dies als eine Art Hierarchie zu sehen, und sich mit diesem ‚zweiten Platz‘ arrangiert zu haben. Sie sieht ähnliches ja in der Männerwelt mit deren siebzehnstufiger Hierarchie.

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