Sonntag, 20. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 22
Einige Monate danach erhalte ich wieder eine Einladung an einem Hui –Versammlung- im Fale Pa’enga –Gemeinschaftshaus- teilzunehmen. Der Überbringer der Einladung ist einer der Schüler des Chefs der Schule für Wahine –Frauen-. Er sagt mir noch, dass ich LELE und RAKA‘U mitbringen soll. Sein Kahuna würde ebenfalls seine Wahine mitbringen, HETU‘U –Stern- und RA’A –Sonne-.
Ich streife ein paar Tage vorher durch den Wald, um Beeren, Früchte und Kräuter zu sammeln. LELE und RAKA‘U begleiten mich und bringen mich zu den vielversprechendsten Stellen. Aus meinem Manavai –Garten- hinter dem Haus nehme ich mehrere Körbe voll Kumara –Süßkartoffeln-. Am Tag der Zusammenkunft bitte ich meine Schüler die Lebensmittel zu den Umu –Erdöfen- am Strand vor dem Gemeinschaftshaus zu bringen. Dort werden sie gemeinsam mit den Lebensmitteln und Jagdbeuten der anderen Haushaltsvorstände zubereitet und dampfgegart. Jede Besprechung klingt aus mit einem Essen, an dem der ganze Stamm teilnimmt.
Wieder trage ich meine Wahine nacheinander auf meinen Armen die Stufen hinauf. Oben setze ich mich an das Ende der zwei langen Reihen der Kahunas. Es sind noch nicht alle Ratsmitglieder anwesend. Die beiden sich zugewandten Reihen weisen noch einige Lücken auf. Kaum sitze ich mit untergeschlagenen Beinen auf der Matte aus Totora –Binsen/Schilf-, fordert mich der Kuia auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Dort sitzt schon der Kahuna –Experte/Weiser- der Schule für Wahine. Ich nehme das Angebot lächelnd an. Es abzulehnen wäre unhöflich.
Als ich mich neben dem Kahuna niederlassen will, sehe ich, dass der Kahuna, der mich aus dem Pazifik gezogen hat, zu meiner Linken sitzt. Während dieser Umgruppierung, die nur für heute gilt, sind weitere Ratsmitglieder eingetroffen.
Nach einer Weile erhebt der Kuia das Wort:
„Wir haben uns heute hier versammelt, um etwas Wichtiges zu besprechen. Unsere Ahnen sind auf der Flucht ohne Wahine zu dieser Insel gekommen und haben sich hier niedergelassen. Unsere Wahine, Tamahine und viele Tangata und Poki tane mussten beim Überfall unserer Feinde ihr Leben lassen. Darum haben unsere Ahnen beschlossen dem Feind immer wieder Frauen zu rauben, damit sich unser Stamm von der Niederlage erholt.“
Zustimmendes Gemurmel erfüllt den Innenraum des Versammlungshauses. Er macht eine Pause.
„Unsere Ahnen holten also Wahine unseres Feindes auf die Insel. Sie waren unsere Feinde und deshalb wurde beschlossen, dass sie nicht unter uns leben durften. Sie sollten uns nicht beeinflussen können,“ redet er weiter. „Ihnen wurde der Wald im Inneren der Insel als Lebensraum zugewiesen. Die Umgebung der Fale, der Strand und die Vaka –Kanus- wurden ihnen als Tabu erklärt. Den Tangata –Männern- wurde erlaubt, Wahine im Wald zu jagen. Dafür mussten sie sie ein bis zwei Jahre in ihrem Fale in entsprechenden Gehegen versorgen. Nachkommen aus diesen zeitlichen Verbindungen wurden getrennt erzogen, je nachdem ob es sich um Poki tane oder Tamahine handelt.“
Wieder macht der Kuia eine Pause und schaut in die Runde. Es herrscht erwartungsvolles Schweigen.
„Hina –Mondgöttin- hat uns einen Manuhiri –Gast- aus einer fernen Welt gesandt, damit wir unser Leben überdenken. Er hat uns die Schrift gebracht, damit wir unsere Geschichten für alle Zeit festhalten können. Nun hat er unsere Aufmerksamkeit auf unser Verhältnis zu den Wahine gelenkt…“
Er bricht ab und schaut mich erwartungsvoll an. Ich fühle die Blicke aller Anwesenden auf mir ruhen. Man erwartet von mir also eine Stellungnahme. Ich beginne:
„Eine höhere Macht hat mich zu euch geführt. Das ist richtig. Ich hätte auch in einem so großen Abstand an diesem Kai’nga –Land- vorbei segeln können, dass ich von der Existenz niemals etwas erfahren hätte. Nun habe ich mich entschlossen, mich in euer Leben einzufügen und Titel zu erwerben. Das bedeutet auch, dass ich euren Lebensstil nicht infrage stelle.
Dennoch reifte in mir die Erkenntnis, dass eure Trennung in eine Männer- und eine Frauengesellschaft nicht der natürlichen Ordnung entspricht. Ich habe mich zweier Wahine angenommen und sorge für sie. Ich fühle mich verantwortlich für ihr Wohl und kümmere mich darum, dass es ihnen bei mir gut geht. Dabei erlebte ich, wie sie förmlich auflebten.
Ihr habt vor Generationen diese Trennung vollzogen aus Angst vor einem schlechten Einfluss der Frauen auf euch; aus Angst, dass der Feind durch seine Frauen euch letztlich doch vernichtet. Aber die Wahine, die heute mit euch auf dieser Insel leben, leben schon seit Generationen hier und haben inzwischen keine Erinnerung mehr daran, dass sie einmal entführt wurden…“
„Das stimmt nicht,“ wirft einer der Kahunas dazwischen, „wir holen auch heute noch vereinzelt eine neue Wahine aus dem Kai’nga der Feinde zu uns. Das müssen wir tun, um Entstellungen bei den neugeborenen Poki tane zu verhindern!“
Ich nicke.
„Ja, da hast du allerdings recht,“ antworte ich dem Mann. „Die Iwipapa sind zahlenmäßig zu klein, um ohne frisches Blut auszukommen – und die Insel ist zu klein, um eine große Bevölkerung zu ernähren. Auch wenn da etwas machbar wäre!“
Der Kuia hat zugehört und schaltet sich jetzt ein.
„Was hältst du für machbar?“
„Ihr habt die Nahrungsbeschaffung mittels Jagen und Sammeln beibehalten, die ihr aus dem Kai’nga eurer Vorfahren kennt. Hier habt ihr das Fischen in Fischteichen und den Anbau von Beeren und Süßkartoffeln in der Nähe eurer Häuser hinzugenommen. Diese Teich- und Gartenwirtschaft hilft euch auf der Insel zu überleben. Ein anderes Inselvolk, die Lapita, hatten schon vor langer Zeit die Feldwirtschaft eingeführt, um mehr Menschen auf den Inseln ernähren zu können. Diese Leute leben allerdings schon seit über hundert Generationen auf den Inseln. Trotzdem – aktuell ist das Problem der Blutauffrischung noch nicht anders zu lösen, als ihr es bisher macht.
Doch wir sind hier aus einem anderen Grund zusammen gekommen. Das Thema unserer Korero –Besprechung- lautete ‚unser Verhältnis zwischen den Tangata und Wahine‘. Meinen Wahine habe ich Namen gegeben und ihnen erlaubt zeitlebens in meinem Fale zu wohnen. Ich halte sie nicht in einem Gehege, sondern lasse sie freikommen und gehen, wie sie möchten. Sie haben sich entschlossen, außer kleinen Ausflügen in die Umgebung meines Fale, in meiner Nähe zu sein und unter meinem Dach zu schlafen. Sie haben erkannt, dass das Leben bei mir weit weniger gefährlich ist, als draußen im Wald. Sie sind mir zugetan und würden nie etwas tun, das mir schadet, weil sie wissen, dass gleiches für mich ihnen gegenüber gilt.“