Montag, 7. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 09
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Die Kultur dieser Südsee-Insulaner wird durch Mythen und Erfahrungsberichte der Älteren auf die Jüngeren übertragen. Dies geschieht ohne Schrift in erzählender Weise. Die Jüngeren müssen das Gehörte rezitieren und ihr erworbenes Können zeigen. Bei Bedarf korrigieren die Älteren solange, bis sie mit den Leistungen der Jüngeren zufrieden sind.
Haben die Jüngeren eine bestimmte Stufe erreicht, können sie einen Titel erwerben. Andere Titel muss man sich erkaufen, indem man etwas zum Wohl der Allgemeinheit macht. Das fördert den Zusammenhalt des Stammes. So kann es ungefähr zwei Jahre dauern bis man den nächsten Titel erhält.
Die Kultur der Iwipapa ist stark mit dem Bambus verbunden. In den vergangenen Jahrtausenden ist diese Pflanze von den Polynesiern in der Südsee verbreitet worden. Nicht nur, dass damit die Ausleger ihrer Kanus hergestellt werden, auch beim Hausbau findet die Pflanze Verwendung und bei der Herstellung von Gebrauchsgegenständen.
Aus jungen, dünnen Stängeln stellt man zum Beispiel Tukutuku her. Das sind Gitterpaneele, die der Kahuna bei seinem Unterricht in Navigation verwendet. An jedem Kreuzungspunkt der Stangen muss man sich einen Stern vorstellen, dann erhält man eine genaue Sternenkarte des südlichen Himmels über dem Pazifik. Der Kahuna erklärt in seinem Unterricht, dass man des Nachts unter freiem senkrecht in den Himmel schauen muss. Der Stern, der direkt über mir steht, ist sozusagen die Adresse der Insel auf der ich mich befinde. So findet er mit Hilfe des ‚Sternenweges‘ des Nachts zu seinem Ziel.
Aber auch im Alltag findet man überall Bambus. Selbst die Messer sind aus scharfen Bambussplittern.
Ich überlege nun, was man noch alles aus Bambus herstellen kann. Etwas, dass die Iwipapa noch nicht kennen soll es sein. Mir kommen die Bücher der Chinesen in den Sinn, die diese vor der Erfindung des Papiers im Gebrauch hatten.
Also suche ich mir zwei Steine, die vom Wasser möglichst flach geschliffen wurden. In dem kleinen Wasserlauf, der vom Wasserfall ins Meer führt werde ich fündig. Ich lasse sie bei der Zubereitung des Essens im Umu mit erhitzen. Dabei lege ich ein Stück Bambus dazwischen. Der Wasserdampf im Erdofen macht den Bambus weich und der Stein lässt ihn flach werden.
Als ich sehe, dass mein Vorhaben gelingt, stelle ich auf diese Weise viele Täfelchen her. Jedes Täfelchen erhält an den Schmalseiten mit einem Drillbohrer je zwei Löcher, durch die ich Lederschnüre ziehe. Eine Anzahl Täfelchen werden nach dem Übereinanderlegen nun mit Lederschnüren zusammengebunden. Schon ist ein Buch entstanden.
Nun brauche ich noch eine Tinte, der Salzwasser nichts anhaben kann, und schon kann man die Bücher auf Reisen mit sich führen.
Nun kommt das Schwierigste: Ich könnte die Bücher mit der bei uns gebräuchlichen Schrift beschreiben, aber das finde ich nicht authentisch genug. Schließlich soll meine Neuerung vor den Augen des Kuia Bestand haben und ich damit einen Titel erwerben können.
Nirgendwo im Pazifik hat sich bisher eine Schrift entwickelt bis auf der Osterinsel. Da die Rapa Nui ausgestorben sind, konnte bisher niemand diese Schrift entziffern. Wäre sie eine Wortschrift, müsste sie um die zweitausend Zeichen beinhalten, wie ich von den Chinesen, Sumerern und Ägyptern weiß. Wäre sie eine Silbenschrift, sollte sie unter zweihundert Zeichen beinhalten. Man hat sie systematisch katalogisiert und um die siebenhundert Zeichen gezählt.
Das hilft mir nun aber nicht weiter. Also bitte ich Mateo, mir Bilder zu malen und die Bedeutung zu nennen. So entstehen Bildzeichen aus ihrer mythologischen Welt. Die Silben der Worte ihrer Sprache versuche ich nun zu katalogisieren. Dann bekommen die Silben Bilder zugeordnet, die an Bezeichnungen erinnern in denen die Silben vorkommen. Zum Schluss soll Mateo die Bilder mit wenigen Strichen auf die Täfelchen bringen. Diese vereinfachten Zeichen zeige ich nun dem Kuia. Er schaut skeptisch.
Um ihm den Gebrauch zu verdeutlichen, lasse ich ihn eine kurze Episode aus dem Alltag erzählen. Ich schreibe sie mir auf und übertrage sie dann in die von mir entworfene Schrift. Jetzt zeige ich ihm die Täfelchen mit seiner kleinen Geschichte.
Der Kuia übergibt die Täfelchen einem der Fischer. In den nächsten Wochen werden sie dem Salzwasser des Pazifiks ausgesetzt. In der Zwischenzeit lasse ich mir von Mateo die Mythen seines Stammes erzählen und schreibe sie auf die Täfelchen. Von einem der anderen jungen Männer, den ich oft beim Kochen beobachte, lasse ich mir die Rezepte aufsagen. Jetzt brauche ich Zahlzeichen. Hierfür verwende ich Punkte und Striche.
Da der Pazifik den niedergeschriebenen Geschichten nichts anhaben kann, hat meine Innovation zur Folge, dass ich den nächsten Titel schon nach beinahe einem Jahr erlange. Als äußeres Zeichen wird mein Tattoo in der gleichen schmerzhaften Weise erweitert. Der Ablauf des Rituals ist das Gleiche, wie ich es bei der Initiation schon erlebt habe. Wenn ich bedenke, dass das im Laufe meines Lebens bis zu siebzehn Mal geschieht, graut es mir etwas. Zum Glück kommt es dabei nicht zu Entzündungen, und die Prozedur selbst wird durch das Kawa kawa erträglich.

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Sechs Wochen nach dem Erwerb meines ersten Titels und damit dem neugeschaffenen Beruf des Schreibers, sind meine Narben verheilt. In der Zwischenzeit habe ich ein paar Schüler zur Seite gestellt bekommen.
Neben diesem Lehren der neuen Schrift, um ihre Überlieferungen in ihrer Sprache schriftlich festzuhalten, lasse ich mir von Mateo ihre Mythen erzählen. So erfahre ich auch etwas über die Ursprünge der Iwipapa. Ob es sich dabei um Märchen handelt, über die sich die Leute hier ihre Herkunft erklären, oder ob es authentische Erinnerungen sind, will ich nicht bewerten. Einen wahren Kern werden die Geschichten sicher haben.
Nach Mateos Erzählung hat es in der Vergangenheit einen Krieg zwischen den Iwipapa und einem rivalisierenden Stamm gegeben. Die Iwipapa sind vernichtend geschlagen worden, das heißt bis auf wenige, denen die Flucht mit ihren Auslegerkanus gelungen ist, wurden alle getötet, insbesondere ihre Frauen und Kinder, aber ebenso ihr Ariki –Häuptling-.
Die Fliehenden sind hinaus aufs Meer hinausgefahren und fanden nach vielen Wochen diese Insel. Hier siedelten sie sich an und es hat sich das System der Titel entwickelt. Angeführt wird der Stamm seitdem von demjenigen mit den meisten Titeln. Dieser nennt sich nun Kuia –Stammesältester-. Sie sind dann von hier aus zu Expeditionen in die frühere Heimat aufgebrochen, mit dem Ziel, dem Feind im Schutz der Nacht die Frauen zu rauben.