Freitag, 25. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 27
Meine Begleiterinnen führen mich auf das Haus zu. Es steht auf Pfählen. Der größte Raum unter dem Haus bildet ein eingezäuntes Gehege. Werden hier auch Nutztiere gehalten?
Ich habe mir den ganzen Tag über Gedanken gemacht, ob die Frauen die einzigen Menschen auf dieser Insel sind. Vielleicht sind es Schiffbrüchige? Dann aber denke ich darüber nach, dass ich doch von Männern entführt worden bin. Jedenfalls hat mich ein Junge während der Reise regelmäßig verpflegt. Sonst habe ich niemand zu Gesicht bekommen. Auch hat mich niemand angefasst. Dann wache ich hier auf und treffe am zweiten Tag vier Frauen, die sich noch dazu wie Tiere auf allen Vieren fortbewegen. Jetzt, als es langsam dunkel wird, ist das Haus ihr Ziel. Das können sie unmöglich selbst errichtet haben.
Sie führen mich in das Gehege und nehmen einen Stapel Matten und Decken aus einer Ecke, die sie auf dem Boden ausbreiten. Dann geben sie mir zu verstehen, dass wir hier schlafen sollen. Sie legen sich an den Eingang des Geheges und decken sich zu. Nach einem Seufzer mache ich es ihnen nach, gespannt darauf, was mir wohl der nächste Tag bringt.
Lele gibt mir noch ein Betthupferl, eine Kleinigkeit zu essen, bevor ich einschlafe.
Am nächsten Morgen habe ich leichte Kopfschmerzen. Ich drehe mich unter der Decke und halte die Augen noch eine Weile geschlossen. Ich mag noch nicht aufstehen und stelle mich schlafend, weil ich Geräusche um mich herum wahrnehme. Meine Begleiterinnen scheinen die Matten und Decken wieder in die Ecke zu räumen. Ich nehme mir vor, es ihnen gleich nach zu machen, wenn die Kopfschmerzen abgeklungen sind.
Aber die Geräusche wollen nicht enden. Neugierig blinzele ich, um mich zu orientieren. Schlagartig bin ich hellwach und stemme mich hoch. Die Kopfschmerzen scheinen durch meine plötzliche Aktion stärker zu werden. Ich schüttele den Kopf. Was ich sehe, lässt Furcht in mir aufsteigen.
Ich liege in einem engen Käfig, den man über mich gestülpt hat, während ich geschlafen habe. Unter der Decke bin ich nackt. Meine Kleidung hat im Wald zwar arg gelitten, aber ich habe immerhin eigenen Stoff an meinem Körper gehabt, der mir jetzt fehlt. Unwillkürlich ziehe ich die Decke höher, wodurch meine Füße frei wurden.
Die Frauen sitzen zusammen und frühstücken. Ich selbst werde von zwei Jungen durch die Stäbe meines Käfigs beobachtet. Sie sitzen auf dem Boden neben dem Käfig.
Ich versuche aufzustehen, aber mir gelingt es nicht viel höher zu kommen, als in den Vierfüßler-Gang, in dem ich mich gestern schon den ganzen Tag durch das Unterholz des Waldes bewegt habe. Die Beiden schauen sich an, dann steht einer der Beiden auf und geht auf einen schrägen Stamm zu, in den Stufen hinein geschlagen wurden. Über die Treppe verschwindet er im Haus und kurz darauf kommt er in Begleitung von zwei älteren Männer zurück.
Die Männer betreten das Gehege und lassen das Tor hinter sich offen. Sie tragen einen Wickelrock, wie er heute noch von vielen Ureinwohnern auf den Inseln und im Inneren meiner Heimat getragen wird. Einer der Beiden ist von heller, sonnengebräunter Haut, der andere hat die gleiche dunkle Hautfarbe wie auch ich.
Der Letzere beugt sich herunter und greift meine Fußgelenke. Ich versuche mich zu befreien, komme aber nicht los. Dafür überschütte ich den Mann mit einer Schimpfkanonade. Er lässt los, erhebt sich wieder und beginnt zu sprechen:
„Inu –Hund-,“ sagt er nur.
Mir fällt ein, dass ich am rechten Fußgelenk eine Tätowierung trage, den Abdruck einer Hundepfote.
Dann zieht er den hellhäutigen Mann in seiner Begleitung von mir weg und entfernt sich. Ich verlege mich aufs Bitten und Betteln, aber niemand kümmert sich um mich. Die vier Frauen folgen den Männern auf allen Vieren zurück ins Haus. Die beiden Jungen sitzen an ihrem Platz und reagieren auf nichts.
Eine Ewigkeit scheint vergangen zu sein, als die Männer wiederkommen. Zwei andere Jungs übernehmen den Platz der Jungs, die nun zurück ins Haus gehen. Sie haben zusammengeflochtene Blätter dabei.
Der dunkelhäutige Mann ist hier wohl der Wortführer. Er stellt sich vor den Käfig und sagt:
„Ab heute heißt du IKA –Fisch-. Wie du einmal geheißen hast, was du in deinem früheren Leben warst, welche Fertigkeiten du erlangt hast, ist nicht von Interesse! Verstanden? Wie heißt du?“
Kleinlaut antworte ich: „IKA.“
„Gut,“ redet er weiter. „Du wirst ab jetzt nur noch reden, wenn ich es dir erlaube! Neugierige Fragen wirst du vergessen müssen! Du wirst gehorchen, anderenfalls wirst du kein Essen erhalten. Natürlich kannst du ‚Lieb Kind‘ machen, bis man dich herauslässt, und dann im Wald verschwinden… Aber der Wald ist gefährlich. Nur Wahine, die hier aufgewachsen sind und sich jahrelang im Wald bewegt haben, kennen sich dort aus. Stellst du dich aber unter meinen Schutz und zeigst Engagement beim Lernen erhältst du die nötige Sorge und Pflege. Ich und meine Poki tane sorgen für dein Wohl und beschützen dich gegen jede Unbill des Lebens hier.“
„Ich will nach Hause!“ sage ich und versuche ihn dabei offen anzublicken.
Er schüttelt lächelnd den Kopf.
„Du bist zuhause,“ stellt er fest. „Dein früheres Leben gibt es nicht mehr!“
Ich höre, was er sagt, kann es aber nicht wirklich akzeptieren. Ich rüttele an den Stäben meines engen Käfigs.
„Schau dir RA’A und HETU’U an!“ sagt er und deutet auf zwei der Frauen, die mich hierher geführt haben. „Sie sind ganz entspannt. Tu es ihnen gleich, dann bekommst du auch etwas zu essen!“
Damit dreht er sich wieder um, lässt einen Laut zwischen Zischen und Pfeifen hören und geht davon. Als er den Laut artikuliert stehen die beiden Frauen auf, die eben noch auf der Seite gelegen und uns beobachtet haben, und laufen ihm auf allen Vieren hinterher. Ich mache große Augen und schaue zu den beiden anderen Frauen hin. Die Eine, LELE, hat mich in der Nacht zu gestern gewärmt.
Der hellhäutige Mann wendet sich nun auch ab und sagt laut: „LELE, RAKA‘U, ZU MIR!“
Nun stehen auch die letzten mir vertrauten Frauen auf und laufen auf allen Vieren zu dem Mann. Bei ihm angekommen, reiben sie ihre Wangen an seinem Oberschenkel. Er beugt sich zu ihnen herab und streicht ihnen durchs Haar. Dabei zeigt er, aber auch die beiden Frauen, einen zufriedenen, frohen Gesichtsausdruck.
„Hallo, Sie!“ rufe ich.
Ich habe Angst, alleingelassen zu werden. Zwar sitzen die beiden Jungen da. Aber ich weiß nicht, was ich von ihnen erwarten kann. Zu LELE habe ich inzwischen Zutrauen gefasst.