Donnerstag, 24. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 26
Beim Gedanken an meine Entführer schrecke ich zusammen. Verstohlen schaue ich mich um, aber niemand zeigt sich mir. An die Wiese grenzen Büsche und kleinere Bäume an. Dahinter liegt die dichte Vegetation eines Waldes. Ich muss etwas unternehmen. Also erhebe ich mich und gehe auf den Wald zu. Auch in meiner Heimat gibt es Wald. Aber der wurde von der Holzindustrie schon sehr stark zurück gedrängt.
Als ich zwischen die Büsche und unter die ersten Bäume trete, umfängt mich die Düsternis des Waldes. Ich empfinde das als beängstigend, da ich mich bisher immer vom Wald ferngehalten habe. Die Tiere des Waldes können sehr gefährlich sein. Nein, hier möchte ich nicht leben! Ich drehe um und laufe durch das Gras am Waldrand längs, blindlings eine Richtung wählend. Ich laufe, dass mir das Haar über die Schultern flattert, ich hüpfe und drehe mich in der Luft. Niemand sieht mich. So etwas habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan.
Bald erreiche ich einen Wasserlauf, vielleicht drei Meter breit, aber nur knöcheltief. Ich bücke mich und schöpfe mit den Händen Wasser, das ich trinke. Dann erreiche ich das andere Ufer und gehe weiter. Stundenlang bewege ich mich so in Strandnähe. Manchmal erreicht der Wald das Ufer, dort wo der Strand von einem Stück felsiger Küste abgelöst wird. Eine der Lianen erweist sich als gut getarnte Schlange.
Entsetzt stolpere ich weiter und erreiche wieder Wiesengrund. Schließlich wird es kühler, der Strand schmaler und die Dämmerung setzt ein. Erschöpft lasse ich mich auf der Wiese nieder.
Es wird eine dunkle, schöne, windige Nacht. Ich liege auf dem Rücken und betrachte die Sterne, die mir nie zuvor so strahlend vorgekommen sind.
„Wie schön dieses Fleckchen Erde doch ist!“ sage ich leise vor mich hin.
Als ich am Morgen wach werde, ist es kühl und feucht. Und ich habe großen Hunger. Ich will mich aufsetzen, aber da stoße ich an etwas Weiches. Erschrocken sehe ich, dass sich eine andere Frau, vielleicht gut zehn Jahre älter als ich an mich gekuschelt hat. Sie rollt nun ebenfalls zur Seite und richtet sich auf. Aber sie stellt sich nicht hin, wie ich bei der Bewegung angenommen habe, sondern steht nun auf allen Vieren neben mir. Sie hat mich wohl im Schlaf gewärmt.
Sie trägt ein Outfit aus netzförmig geflochtenen Lederschnüren, an dem kleine Taschen befestigt sind. Nun richtet sie sich auf den Knien auf und nimmt Stücke getrockneten Fisches und Beeren aus den Taschen. In einer Tasche hat sie sogar eine kleine Flasche aus Ton, die sie öffnet und mir daraus zu trinken anbietet. So frühstücken wir erst einmal ausgiebig auf der taufeuchten Wiese.
Schließlich stupst sie mich an und deutet mit einer Hand auf den Wald. Sie macht auf allen Vieren einen Schritt auf die dichte Vegetation zu und wendet sich dann wieder nach mir um. Wieder deutet sie auf den Wald. Also stehe ich auf und folge ihr.
Immer wieder muss ich mich bücken, um unter den Ästen hindurch zu kriechen, damit ich ihr folgen kann. Schließlich bin ich es leid und gehe ebenfalls auf Hände und Knie. Ich imitiere den Gang meiner Führerin und frage mich schon die ganze Zeit, warum sie kein Wort spricht. Trotzdem sind ihre Mimik und ihre Gesten so beredt, dass ich sie wunderbar verstehe unterwegs. Sie achtet sehr auf mich und warnt mich rechtzeitig vor Gefahren. Dennoch wird mein Informationsbedürfnis mit der Zeit so groß, dass ich einfach stehen bleibe und mich hinsetze.
Sie wendet sich wieder einmal zu mir um, und kommt zu mir zurück. Dann stupst sie mich an und weist mit der Hand tiefer in den Wald hinein. Ich schüttele den Kopf, lege meine Hand auf mein Herz und sage: „Mary.“
Dann weise ich auf sie und frage: „Wer bist du?“
Sie steht stumm auf allen Vieren vor mir. In ihrem Gesicht arbeitet es. Also stelle ich mich wieder vor, indem ich auf mich zeige und meinen Namen nenne. Dann zeige ich auf sie und mache ein fragendes Gesicht. Plötzlich sagt sie:
„LELE.“
Aha, meine Führerin heißt also LELE. Ich will fragen, wohin sie mich führt. Da höre ich Rascheln im Laub, das den Waldboden bedeckt. Kurz darauf stoßen drei weitere Frauen auf allen Vieren zu uns. Das verwirrt mich. Wo bin ich denn hier gelandet? Gehen hier alle Menschen auf allen Vieren? Sicher, das scheint die effektivste Fortbewegung in dieser dichten Vegetation zu sein. Ich empfinde es aber trotzdem als ungewöhnlich. Ich könnte mir nicht vorstellen, dauerhaft auf allen Vieren zu gehen. Dann würde ich lieber dem Wald fernbleiben, oder nur kurzfristig zum Sammeln von Früchten hinein zu gehen.
Die Vier begrüßen sich herzlich, dann nehmen sie mich in ihre Mitte. Nun bin ich gezwungen weiter zu gehen. LELE bleibt an der Spitze, eine setzt sich hinter mich und treibt mich mit Stupsern immer wieder vorwärts und die beiden anderen bleiben dicht an meinen Seiten.
Ich habe keine andere Wahl, als ihnen auf allen Vieren zu folgen. Nach einigen Stunden, in denen sie mir verschiedene Pflanzen gezeigt und dann den Kopf schüttelnd mich davon weg gedrängt haben, machen wir Rast. Auch die Anderen haben Proviant dabei, den wir uns teilen. Hinzu kommen frisch gepflückte Früchte. So zeigen sie mir giftige Pflanzen und solche, die man essen kann. Viele der essbaren Früchte sind mir vom Markt in unserem Dorf und der Küche in meinem Internat bekannt.
Genauso machen es meine vier Begleiterinnen, sobald wir ein Tier im Wald entdecken. Darüber vergeht der Tag. Als die Dämmerung anbricht erreichen wir eine Lichtung im Wald, auf der eine Hütte im traditionellen Baustil mit hochgezogenen Giebeln, steht. Auch sehe ich einen Garten mit verschiedenen Kulturpflanzen.